Emil ständig unter Strom - eine Rezension
In ihrem dritten Buch eröffnet Britta Seger weitere und tiefergehende Einblicke in das Leben eines autistischen Jugendlichen im Spannungsfeld zwischenmenschlicher Interaktion.Inhalt
Das Buch "Emil ständig unter Strom" von Britta Seger befasst sich mit den allen autistischen Formen gemeinsamen Hauptsymptomen unter besonderer Berücksichtigung der Dynamik von Kommunikations- und Interaktionsprozessen. Zur Erleichterung des Verständnisses werden die sozialen und kommunikativen Probleme von jungen Menschen im Autismus-Spektrum mit Hilfe eines wissenschaftlichen Kommunikationsmodells beschrieben und anhand anschaulicher Beispiele erläutert. Auch wird in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention (Stichwort Inklusion) und deren gesellschaftlicher Umsetzung im Bildungsbereich eingegangen.
Intention und Zielgruppen
Wie in ihren beiden früheren Werken betrachtet die studierte Musiktherapeutin Seger die autismusspezifischen Kommunikations- und Interaktionsprozesse auch in ihrem neuesten Buch vom musiktherapeutischen Blickwinkel aus. Die Trilogie (Tom, Paul und Emil) ist als kombinierbares Aufklärungsmaterial für Menschen mit autistischem Hintergrund, für deren Angehörige und für Personen gedacht, die im täglichen Leben mit Autisten zu tun haben.
In diesem Buch nimmt er die Leser mit auf die Reise in seine Gedankenwelt. (Bild: von Loeper Literaturverlag, Karlsruhe 2018)
Aufbau und Gliederung
Das 80 Seiten umfassende Buch ist in acht Kapitel gegliedert. Vorwort, Einleitung und Nachwort runden den Text ab. Neben der Literatur- und Quellenangabe findet sich ein kurzes Glossar, in dem der Leser einige für das Textverständnis wichtige Erläuterungen findet.
Kapitel 1 stellt in knapper Form das autistische Formenspektrum dar. Hier macht die Leserin/der Leser zum ersten Mal Bekanntschaft mit Emil, dem fiktiven Protagonisten, der im Laufe des Textes ausgewählte Beispiele aus seinem (autistischen) Leben demonstriert. Unterschiedliche Interpretationen und Wertungen von Emils Verhalten werden synoptisch gegenübergestellt.
Kapitel 2 befasst sich mit Aspekten der Kommunikation innerhalb sozialer Interaktionen. Beispielhaft werden die drei unterschiedlichen Phasen menschlicher Kommunikation sowie ihre verbalen und nonverbalen Hilfsmittel erläutert.
Die fundamentalen Unterschiede zwischen neurotypischer und autistischer Kommunikation werden in Kapitel 3 ausführlich dargestellt und erläutert. Zur Veranschaulichung dient der Autorin das "Vier-Seiten-Kommunikationsmodell" des Psychologen und Kommunikationswissenschaftlers Friedemann Schulz von Thun. Anhand mehrerer Schaubilder und beispielhaft ausgewählter Situationen kann der Leser/die Leserin Emils Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprobleme auf den vier Kommunikationsebenen (Appell, Selbstoffenbarung, Beziehung, sachliche Information) nachvollziehen und verstehen, weshalb Emil nur einen Teil einer an ihn gerichteten Botschaft wahrnimmt und ihn anders bewertet als seine neurotypischen Mitmenschen es erwarten.
Kapitel 4 erweitert das kommunikationspsychologische Modell durch Emils vorgegebene, autistische Perzeption von Situationen und der sich daraus ergebenden andersartigen Wahrnehmung und Deutung von Zusammenhängen.
Kapitel 5 geht auf die Dynamik von Gesprächsanteilen und deren Bedeutung und Funktion im sozialen Miteinander ein. Hier wird deutlich, weshalb bestimmte Gesprächsanteile für Menschen mit Autismus so belastend sein können.
In Kapitel 6 werden die vorgestellten Modelle kurz rekapituliert und zusammengefasst. Das siebte Kapitel befasst sich mit den Umgebungsfaktoren, mit denen Emil beim gemeinsamen Lernen in Gruppen konfrontiert wird und welche Probleme autistische Kommunikationsprozesse bei schulischen Leistungsnachweisen bereiten können.
Kapitel 8 informiert über die amtlichen Anerkennungs- und Einstufungsverfahren für Schüler sowie über die Möglichkeit des Nachteilsausgleiches, auf den Menschen im Autismus-Spektrum gesetzlichen Anspruch haben.
Kritische Wertung
Wie in den beiden vorangegangenen Büchern (Tom, Paul) verleiht die Autorin mit einer Kunstfigur dem Phänomen Autismus ein Gesicht. Anhand von eingängigen Situationen demonstriert der jugendliche Autist Emil der Leserin/dem Leser seine Art der Kommunikation in der zwischenmenschlichen Interaktion sowohl im Alltag wie auch in speziellen Situationen (Stichwort Schule). Analytisch wird nachgewiesen, weshalb die "normale" Welt für Emil oft ein Rätsel ist, weshalb ihm manche Situationen "skurril" und "unverständlich" erscheinen, weil er sie mit den ihm angeborenen perzeptiven Mitteln nicht dechiffrieren kann.
Dass die Autorin in ihrem dritten Buch einem wissenschaftlichen Kommunikationsmodell Raum gibt, ist nur konsequent und für die Leserin/den Leser durchaus von Nutzen. Nur wer die Struktur und die Dynamik interaktiver Kommunikation kennt (obgleich sie fast jeder unbewusst anwendet), ist in der Lage, die Schwierigkeiten von Autisten in der sozialen Interaktion besser zu verstehen. Besonders positiv hervorgehoben werden muss in diesem Zusammenhang die Analyse der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprobleme von Botschaften (S. 34f). Das sehr anschaulich präsentierte "Vier-Seiten-Modell" leistet hierbei gute Dienste. Im direkten Vergleich mit den autistischen Kommunikationsebenen (die aus Emils Sicht ja nicht "falsch" oder "gestört" sind), werden die fundamentalen Unterschiede zwischen neurotypischer und autistischer sozialer Interaktion deutlich.
Es ist erfreulich, dass das in der UN-Menschenrechtskonvention (im Buch ist lediglich von einer UN-Konvention die Rede) verankerte und seit 2009 in Deutschland rechtlich bindende Konzept der Inklusion, d.h. die gesellschaftliche Akzeptanz und Gleichberechtigung aller Menschen unabhängig aller individueller Unterschiede, in Britta Segers Buch Erwähnung findet. Dagegen mutet der Exkurs über Behindertenausweise, Pflegegrade und Nachteilsausgleich fast schon überholt an, scheint aber auf Grund einer inklusionsunwilligen Gesellschaft leider immer noch berechtigt zu sein [3]. Pathologisierende Begriffe wie "Störung", "Syndrom" etc. werden zwar nach wie vor verwendet, doch immerhin räumt die Autorin ein, "dass das Gehirn von autistischen Menschen anders funktioniert" und "die Inklusion…viele Veränderungen [fordere]".
Über jede Kritik erhaben ist wieder einmal die optische Gestaltung mittels farblich hervorgehobener Kästen und Grafiken. In bewährter Weise steuerte die 2015 jung verstorbene Grafikerin Anika Wilms auflockernde Cartoons bei.
Fazit
Das vorliegende Buch vertieft die in den vorausgegangenen Bänden behandelte Frage: was bedeutet es für einen jungen Menschen, Asperger-Autist zu sein? Durch die Zuhilfenahme eines psychologischen Kommunikationsmodells gelingt eine genauere Betrachtung spezieller Autismusmerkmale im Zusammenhang mit sozialer Interaktion. Die Leserin und der Leser erfahren, was es bedeutet, als Mensch im Autismusspektrum in einer neurotypischen Welt "ständig unter Strom" zu stehen. Wie Tom und Paul sollte auch Emil ein kompetenter Ratgeber sein für Angehörige und Menschen, die beruflich mit autistischen Jugendlichen zu tun haben.
Seger, Britta: Emil ständig unter Strom. Betrachtung der Autismus-Spektrum-Störung im Spannungsfeld der zwischenmenschlichen Interaktion. 80 Seiten. Mit Illustrationen von Anika Wilms. Karlsruhe: von Loeper Literaturverlag 2018. ISBN 978-3-86059-276-2 Preis: 12,90 €
Lieraturhinweise
[1] Seger, Britta: Was ist mit Tom? Geschichten zur Aufklärung über Autismus (Aspergersyndrom) in Kindergarten und Grundschule. Von Loeper Literaturverlag Karlsruhe 2011
[2] Seger, Britta: Paul mittendrin und doch allein? Autismus-Spektrum-Störung (Aspergersyndrom) im Leben von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Von Loeper Literaturverlag Karlsruhe 2017
[3] Boxberger, Hans Jürgen: Kleine Brötchen backen? Als Asperger-Autist in den Tücken des Berufslebens. Von Loeper Literaturverlag Karlsruhe 2018
Bildquelle:
von Loeper Literaturverlag, Karlsruhe
(Kleine Brötchen backen? Buchvorstellung)
Stephanie Hofschlaeger / pixelio.de
(Das Phänomen Autismus)