Strategien für den Alltag (Bild: Ruth Rudolph / pixelio.de)

Man tian guo hai – Das Meer überqueren und den Himmel täuschen

Um die eigene Taktik erfolgreich durchzuführen, muss die Wahrheit manipuliert werden. Wahrheit lässt sich am besten dann manipulieren, wenn das Vertraute als Mittel der Täuschung genutzt wird. Es geht darum, die eigene List mit etwas Alltäglichem, etwas Unscheinbaren oder etwas Offensichtlichen zu verweben. Je mehr die Taktik in etwas Vertrautes eingebettet wird, desto weniger durchschaubarer wird sie. Normalerweise erwartet der Mensch etwas Negatives im Verborgenen. Er neigt dazu, das scheinbar Auffällige zu untersuchen und vernachlässigt das, was vollkommen unauffällig ist. Kaum jemand wird sich am hellen Tag fürchten, doch in der Nacht …? Wer erwartet schon einen Überfall inmitten einer Menschengruppe? Wer glaubt, auf einem verlassenen Feldweg Opfer eines Verkehrsunfalls zu werden? Ist es nicht viel wahrscheinlicher, dass auf einer großen und befahrenen Straße Unfälle geschehen? Folglich verschiebt sich die Wahrnehmung: In der Nacht geht man vorsichtiger, man achtet mehr auf seine Umgebung, auf dem Feldweg läuft man unvorsichtiger und vernachlässigt seine Umgebung, auf der großen Straße läuft man achtsamer und wesentlich konzentrierter. Es ist damit keinesfalls zum Provozieren von Verkehrsunfällen aufgerufen, doch wird in diesem Vergleich die Lenkung der menschlichen Aufmerksamkeit deutlich: Das, was als sicher erscheint, wird weniger beachtet als das, was als gefährlich oder unberechenbar eingestuft wird. Wer mitten im Alltag und im Netz der Gewohnheiten Taktiken ansetzt, wird damit mehr Erfolg haben als jemand, dem man schon vom Weiten seine Absichten anerkennt. Wenn ein Gegner vorgewarnt ist, ist jede Taktik schwer durchsetzbar. Besser ist es, das Vertraute und das Gewohnte für sich auszunutzen.

Yi yi dai lao – Ausgeruht den erschöpften Gegner erwarten

Ein Heer, welches von vielen Kämpfen erschöpft ist, lässt sich einfacher besiegen als ein vollausgerüstetes und ausgeruhtes Heer. In der militärischen Strategie ist es üblich, einen Feind mit überlegener Feuerstärke in kleine Scharmützel zu zwingen, um so die Feuerkraft zu schwächen. Wichtiger aber als ein planmäßiges Vorgehen gegen den Feind ist das Abwarten und Ausharren in sicheren Positionen. Früher war es wichtig, als erster am Schlachtfeld zu erscheinen, denn dann konnte man in Ruhe das Gelände erkunden, die Truppen aufstellen und den Moment des Angriffs bestimmen. Die Armee, welche später zum Schlachtfeld erschien, war noch müde vom langen Marsch und hatte keine Zeit für eine Aufstellung.

Besteht eine langfristige Auseinandersetzung, ist es sinnvoll, solange zu warten, bis der Gegner an sich selbst zerbricht. Wenn ein Gegner umzingelt ist, kann man ihn durch Abwarten aushungern. Die verstreichende Zeit wirkt demoralisierend. Um einen Gegner zu schwächen, sollten immer wieder neue Nebenkriegsschauplätze initiiert werden, um ihn so immer wieder in kleine Auseinandersetzungen zu verstricken, bis er des Krieges müde geworden ist. Der eigentliche Angriff erfolgt, wenn die Erschöpfung des Gegners erkennbar geworden ist. Dieses Taktik lässt sich in der Wirtschaft beobachten: Die kleinen Unternehmen kämpfen um die besten Plätze, zermürben einander und dann erscheint ein großer Konzern und nutzt die erreichten Ergebnisse der kleinen Unternehmen für sich aus.

Sheng dong ji xi – Im Osten lärmen und im Westen angreifen

Hierbei geht es ganz schlicht um Ablenkung. Während man im Osten ein Feuer legt und der Gegner dadurch abgelenkt wird, greift das eigene Heer im Westen an. Eine Finesse ist es, den Gegner dabei glauben zu machen, die Vorbereitungen für einen Angriff würden im Osten vonstatten gehen. Dann verlagert er sämtliche Heere gen Osten und wird im Westen umso angreifbarer sein. Wenn der Gegner die Strategie durchschaut, dann schlägt alles um: das eigene Heer gerät in einen Hinterhalt und die ausgelegte Finte ist wirkungslos. Wenn beide Kriegsparteien dieselbe Strategie anwenden, kann es zu einem langfristigen Hin und Her kommen und keine der beiden Seiten gewinnt einen wirklichen Vorteil. Dabei ist Flexibilität gefragt, um den entscheidenden Schritt zu gehen: Der Gegner muss ständig verwirrt werden. Dies kann mit widersprüchlichen Signalen geschehen oder dadurch dass permanent etwas anderes vorgegeben wird, als beabsichtigt wird. Das eigene Heer greift an, zieht sich aber sofort wieder zurück, es geht in die Offensive, um danach (scheinbar) zu flüchten, es will (scheinbar) die Flanke angreifen, geht aber im letzten Moment auf die vorderen Linien zu usw. Im Krieg ist das doppelte Spiel von Täuschung und Wahrheit notwendig, um überhaupt agieren zu können. Jede beteiligte Konfliktpartei versucht das Gegenüber zu täuschen, um eigene Vorteile zu erhalten. Während im Sport die Täuschung zu den gebräuchlichsten Spielzügen gehört, wird sie im Alltag entweder kaum erkannt oder als moralisch verwerflich abgelehnt. In der Gesellschaft wird die Strategie allerdings sehr stark verwendet. So wird beispielsweise die Öffentlichkeit in Medien mit bestimmten Dingen konfrontiert – gleichzeitig werden aber andere Dinge bewusst nicht erwähnt, um öffentliche Diskussionen zu vermeiden. Die Menschen diskutieren dann über das, was die Medien forciert haben und vernachlässigen das, was eventuell wesentlich weitaus wichtiger wäre.

Jia chi bu dian – Den Dummen spielen, aber schlau bleiben

Es geht darum, den Gegner zu unüberlegten Handlungen zu verleiten, in dem eigene unüberlegte Handlungen vorgetäuscht werden. Wer als Dummkopf bewertet wird, der wird nicht ernstgenommen - schon gar nicht als Gegner. Dadurch kann der scheinbare Dummkopf seine ganze Macht ausspielen, da sich ihm niemand entgegenstellen wird. Es wird dazu geraten, die Maske der Dummheit aufzusetzen, um die List und die Durchtriebenheit zu kaschieren. Das Timing ist hierbei entscheidend: Der Gegner muss selbst glauben wollen, dass der Gegenüber ein Narr ist. Und der scheinbare Narr muss zum rechten Moment seine Maske aufsetzen. Die geistige Überlegenheit entscheidet den Kampf, denn es ist weitaus gefährlicher, von jemandem konfrontiert zu werden, der sich dummstellt, als von jemandem, der tatsächlich dumm ist. Der Taktiker kann mit der Wahrnehmung seines Gegners spielen und lässt ihn immer nur so viel erfahren, wie er für nötig hält. Damit bestimmt er das Verhalten des Gegners, ohne dass es diesem bewusst ist. Wenn man sich im Alltag einfacher gibt, als man tatsächlich ist, wird man oftmals unterschätzt, was entweder dazu führt, dass die Leute einem bereitwilliger helfen oder dass sie einen nicht ernstnehmen und dadurch näher an sich heranlassen, da sie glauben, es ginge keine Gefahr von ihm aus. Wer sich in Gesprächen zurückhält, kann es schaffen, dass sich die anderen eher öffnen und ihre Pläne preisgeben. Durch vorgeheucheltes Lob und Anerkennung können diese in ihrem Ego gestärkt werden, was sie noch unvorsichtiger werden lässt. Ebenso hilft die Maskerade der Einfachheit, Konflikte ins Leere laufen zu lassen. Statt eine Konfrontation zu provozieren, gibt man sich schwach und blöd. Der Gegenüber wird sich verausgaben, während man selbst ruhig bleibt, um im entscheidenden Moment, die Maske abzulegen und seine eigene Sichtweise aus einer gestärkten Position kundzutun.

Literatur

Kotzschmar, Julia & Pöllath, Josef (2010): Strategeme. Etwas aus dem Nichts erzeugen. Wiesbaden: marix Verlag.

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