Failed States Index 2010
Failed States Index 2010

Failed States Index 2010 (Bild: http://2.bp.blogspot.com/_7...)

Konzept der fragilen Staatlichkeit

Wenn man von fragilen Staaten spricht, dann ist immer die Rede davon, dass sich ein Staat nicht bzw. nicht mehr im Besitz des Gewaltmonopols befindet. Das Konzept der schwachen Staaten beruht nämlich auf der Annahme, dass ein Staat ein "politischer Anstaltsbetrieb" sei, "wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt." (Weber 1979, S. 29).

Der Staat besitzt also ein Gewaltmonopol, das dem Schutz der Bevölkerung dienen soll, weil es die Ausübung von Gewalt nicht staatlicher Akteure unterdrückt oder zumindest erfolgreich einschränkt. Wenn ein Staat schwach, fragil oder zerfallen ist, dann bedeutet das, dass er sein Gewaltmonopol teilweise oder vollständig an nichtstaatliche Akteure verloren hat und seine Aufgaben, sei es im Bereich Bildung oder Infrastruktur, nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr wahrnehmen kann. Dies bedeutet in der Regel einen Sicherheitsverlust für die Bürger, häufig übernehmen dann andere Autoritäten die Herrschaft über Teile des Staatsgebietes, zum Beispiel Stammesfürsten, Warlords oder religiöse Führer (Lambach 2007). Sie sorgen für Sicherheit, erlassen Gesetze und erheben Steuern.

Fragile Staaten sind häufig gekennzeichnet durch Konflikte wie Bürgerkriege, Stammesfehden oder Terrorismus, die von den staatlichen Sicherheitsbehörden nicht effektiv abgewehrt werden können. Wenn die Rede von fragiler Staatlichkeit ist, dann setzt das natürlich auch ein Konzept von stabiler Staatlichkeit voraus. In der Regel ist dies das Konzept des modernen Nationalstaates, das sich im Europa des 17./18. Jahrhunderts herausgebildet hat. Hier haben die Kritiker Recht, denn die Analyse fragiler Staaten beruht tatsächlich auf einem Konzept von Staatlichkeit, dass in Europa seinen Ursprung hat und heutzutage in der westlichen Welt und der OECD als Standard anerkannt wird. Wie sieht dieses Konzept aus?

Definition von moderner Staatlichkeit

Moderne Staatlichkeit kann mithilfe von verschiedenen Dimensionen definiert werden, die vorherrschen müssen, damit man von einem stabilen Staat sprechen kann.

Nach Klaus Jellineks Definition von 1895 besteht ein Staat aus drei Teilen: dem Staatsgebiet, dem Staatsvolk und der Staatsgewalt (siehe: Schneckener 2007, S. 101-102). Letzteres hängt eng mit dem Konzept des Gewaltmonopols nach Max Weber zusammen. Dieses Gewaltmonopol wird von einer staatlichen Zentralgewalt ausgeübt, die über entsprechende Institutionen verfügt, die staatliche Souveränität nach Innen und nach Außen zu verteidigen.

Weitere Dimensionen von Staatlichkeit bildeten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts heraus, z.B. der demokratische Verfassungsstaat, der Rechtsstaat oder der Wohlfahrtsstaat (ebd., S. 102). Was den Rechtsstaat und den Wohlfahrtsstaat angeht, so beschreiben sie neben dem Gewaltmonopol eine weitere Funktion von Staatlichkeit, nämlich die Erbringung von staatlichen Leistungen im Dienste des Allgemeinwohls. Zusammen ergeben sie die drei Kernfunktionen moderner Staatlichkeit: Sicherheit, Wohlfahrt und Legitimität/ Rechtsstaatlichkeit (ebd, S. 105). 

Nimmt man diese Funktionen als Norm, so lassen sich vier Typen von Staatlichkeit unterscheiden (S. 107-109). Der stabilste Typ ist der Konsolidierte bzw. sich konsolidierende Staat. Dieser erfüllt die drei Funktionen relativ zuverlässig und dies bereits seit längerer Zeit. Dies gilt vor allem für die westlichen Staaten (EU, Kanada, USA etc.), aber auch Staaten in Osteuropa sowie Japan und Südkorea. Wenn das staatliche Gewaltmonopol einigermaßen intakt ist, aber Defizite bei der Wohlfahrts- und Rechtsstaatlichkeit vorherrschen, so spricht man von schwachen Staaten (weak states). Beispiele sind die meisten arabischen Staaten, aber auch Staaten in Lateinamerika und Afrika. Wenn zwar eine gewisse Wohlfahrts- oder Rechtsstaatlichkeit vorherrscht, aber das Gewaltmonopol des Staates schwindet, dann ist die Rede von verfallenden Staaten (failing states).

Erst, wenn alle drei Funktionen weitgehend außer Kraft gesetzt sind, dann spricht man von gescheiterten Staaten (failed states), also solche, die auf dem Failed States Index ganz weit oben stehen, (z.B. Afghanistan, Irak, DR Kongo).

Fragile Staatlichkeit nicht denkbar ohne OECD-Modell der Staatlichkeit

Wie also zu erkennen ist, leitet sich das Konzept der "fragilen Staatlichkeit" bzw. "gescheiterten Staatlichkeit" unmittelbar aus dem heute gängigen Konzept von Staatlichkeit ab. Damit ist ein fragiler Staat wissenschaftlich nicht denkbar, ohne das OECD-Modell von Staatlichkeit als Grundlage zu nehmen.

Dieses Modell basiert aber ganz speziell auf europäischen Erfahrungen und Wertmaßstäben. Länder außerhalb Europas entwickelten in ihrer Geschichte andere Formen der Organisation. Es ist schwer vorstellbar, dass die Kolonialstaaten bis zu ihrer späteren Autonomie etwas mit Begriffen wie "Souveränität" und "Rechtsstaatlichkeit" anfangen konnten, jedenfalls in der Form, wie sie in Europa verstanden wurden.

Begriffe sind nicht nur Wörter, die man in jede beliebige Sprache übersetzen kann und dabei auch den Sinn eins zu eins beibehält. Sprache ist immer ein Produkt des jeweiligen Erfahrungshintergrundes eines Volkes bzw. einer Gesellschaft. So verhält es sich auch mit dem Begriff der Staatlichkeit an sich. Kann man ernsthaft davon ausgehen, dass in Ländern wie Afghanistan und dem Irak wirklich ein und dasselbe unter dem landessprachlichen Synonym verstanden wird wie in den europäischen Gesellschaften?

Irak und Afghanistan als Beispiele fragiler Staaten

Der Irak und Afghanistan sind Länder, in denen die Vorstellungen moderner Staatlichkeit bisher nicht umgesetzt werden konnten.

Die Regime beider Länder wurden durch Angriffskriege der USA und mit ihr verbündeter Staaten gestürzt. Beim Wiederaufbau hat man mithilfe von verbündeten Kräften aus der Bevölkerung mehr oder weniger demokratische Verfassungen durchgesetzt, in denen freie Wahlen und eine grundsätzliche Gleichberechtigung von Mann und Frau festgeschrieben wurden, Rechte, die in diesen Ländern bisher unbekannt waren. Es kamen schließlich Regierungen zustande, die aus Wahlen hervorgegangen waren. Staatliche Institutionen wurden aufgebaut, Polizisten und Soldaten ausgebildet. Das Ziel war die Schaffung von stabiler Staatlichkeit durch die Etablierung eines staatlichen Gewaltmonopols und Formen von Wohlfahrts- und Rechtsstaatlichkeit. Beide Staaten stehen heute auf dem Failed States Index.

In beiden Staaten gibt es regelmäßig gewalttätige Auseinandersetzungen in Form von Terroranschlägen und Kämpfen mit den Besatzungstruppen. Wenn es selbst mit der Präsenz ausländischer Truppen keine umfassende Sicherheit gibt, wie soll es dann den Regierungen gelingen, auf absehbarer Zeit eine "selbstragende" Sicherheit zu garantieren? Weder Afghanistan noch der Irak erfüllen die Bedingungen der zuvor definierten Staatlichkeit. Angesichts dieser Entwicklungen ist es fraglich, ob die Strategie des state building, also die Schaffung von staatlicher Ordnung und staatlichen Institutionen im Zusammenhang mit einer Demokratisierung in den beiden Fällen die einzig richtige Strategie ist.

Irak und Afghanistan

Beispiele eines gelungenen Aufbaus von stabiler Staatlichkeit

Was im Irak und Afghanistan bisher misslang, gelang jedoch in anderen Regionen der Welt.

Historisch gibt es eine Reihe gelungener Beispiele von Demokratisierung und dem Aufbau stabiler Staatlichkeit, z.B. die Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949. Deren Entwicklung in den 50er Jahren kann man sicher als ein Erfolgsmodell bezeichnen kann, sowohl politisch als auch ökonomisch. Aus einem besetzten und zerstörten Land wurde innerhalb weniger Jahre ein souveräner, stabiler und demokratischer Staat.

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks entstanden in Osteuropa aus Diktaturen ebenfalls demokratische Staaten, wenn auch aufgrund friedlicher Revolutionen und nicht durch Besatzung. Auch diese Staaten entsprechen heute weitgehend den Anforderungen von stabiler Staatlichkeit, obwohl sie zum Teil noch keine Erfahrungen mit Demokratie hatten. Ähnliche Entwicklungen gab es auf dem Balkan und in einigen Ländern Lateinamerikas.

Lässt sich daraus schließen, dass jedes Land prinzipiell in einen stabilen und womöglich auch demokratischen Staat transformiert werden kann? Ist es also nur eine Frage der Zeit, bis auch Afghanistan und der Irak sich ähnlich entwickeln werden wie Polen, Slowenien oder Chile?

Unterschiedliche Vorstellungen von Staatlichkeit entscheidend für Handlungsstrategien

Die Tatsache, dass die Definition von Staatlichkeit abhängig von den jeweiligen kulturellen und historischen Hintergründen eines Landes ist, darf nicht ignoriert werden für die Handlungsstrategie in Bezug auf ein bestimmtes Land.

Es ist anzunehmen, dass die europäischen Staaten, die erfolgreich stabilisiert und demokratisiert wurden, aufgrund eines ähnlichen Erfahrungshintergrundes und ähnlicher Wertideen ganz andere Vorstellungen von Staatlichkeit besitzen als bestimmte Staaten in Afrika oder im nahen Osten. Sie konnten sich deshalb leichter in Richtung des modernen Konzeptes von Staatlichkeit entwickeln.

Darum ist es fraglich, ob es immer einen Sinn ergibt, ein destabilisiertes Land nach westlichen Normvorstellungen zu analysieren und wie in den Fällen Irak und Afghanistan auch umgestalten zu wollen. Denn die Analyse und Interpretation der Lage eines Landes ist entscheidend für die daraus folgende Handlungsstrategie. Betrachtet man ein Land als schwachen oder gescheiterten Staat, so wird man sich vor allem auf den Aufbau staatlicher Institutionen und die Stärkung der zentralen Regierung konzentrieren.

Im Fall des Iraks stellte sich das als eine schwierige Aufgabe heraus, da das Land ethnisch und religiös in Kurden, Sunniten und Schiiten geteilt ist. In Afghanistan gibt es sehr starke regionale Autoritäten, die Warlords und Stammesführer, die den Einfluss der Zentralregierung von vornherein beschränkt hatten. In beiden Ländern kann von selbsttragender Sicherheit keine Rede sein, insofern stimmen die Analysen der Vertreter des Failed- States-Konzeptes.

Doch anstatt ihnen den Stempel "failed state" aufzudrücken, sollte man ihre Probleme vielleicht lieber beim Namen nennen und beispielsweise einen Bürgerkrieg auch einfach als Bürgerkrieg bezeichnen. Ordnet man jeden Staat mit Sicherheitsmängeln in die Kategorie "schwacher Staat" ein,  so folgte daraus eine dementsprechende Handlungsstrategie, Staat A würde also ähnlich wie Staat B behandelt, nur aufgrund der gleichen Prämisse. Dabei sind die Probleme jedes Landes individuell. Statt nur die Regierungen in Bagdad und Kabul zu stärken, hätte man vielleicht die regionale Entwicklung intensiver vorantreiben sollen.

Man hätte z.B. den irakischen Landesteilen mehr Autonomie zubilligen können, im Zweifel womöglich auch eine Unabhängigkeit. In Afgahnistan hätte vielleicht eine gezieltere ökonomische Förderung der Regionen und eine bessere Kooperation mit Warlords, Stammesführern und gemäßigten Taliban mehr Sicherheit gebracht, anstatt Gelder an die Zentralregierung in Kabul zu überweisen. Denn besonders jene regionalen Autoritäten, die von großen Teilen ihrer Bevölkerung unterstützt werden und in ihrem Herrschaftsgebiet für Sicherheit sorgen, müssen nicht zwangsläufig ein Hindernis für Stabilität sein, sondern können auch als eine ihrer Stützen verstanden werden.

Fazit

Insgesamt würde ich sagen, dass das Argument der Kritiker des Konzeptes der fragilen Staatlichkeit durchaus schlüssig ist. Die Vorstellungen von stabiler und fragiler Staatlichkeit sind ein Konstrukt, das auf europäischen Werten und Erfahrungen basiert.

Die Beispiele Irak und Afghanistan machen deutlich, dass sie nicht ohne weiteres auf andere Regionen in der Welt übertragen werden können, da in diesen Ländern andere kulturelle und sprachliche Vorstellungen von Staat und Gesellschaft herrschen. Dies bedeutet nicht, dass eine Stabilisierung im Sinne von Demokratisierung und OECD-Staatlichkeit keine gangbaren Handlungsstrategien sind.

Es ist nur stets zu prüfen, ob sich diese Vorstellungen mit der Mehrheitskultur eines Landes vertragen oder ob nicht besser traditionelle landestypische Machtstrukturen im Interesse der Stabilisierung vorzuziehen sind. In beiden Fällen ist aber das "wie" für die konkrete Umsetzung entscheidend.

Quellen

Lambach, Daniel. 2007. "Fragile Staatlichkeit als Konfliktursache und Möglichkeiten der Bearbeitung".in: http://www1.bpb.de/themen/4PTGBV,0,0,Fragile_Staatlichkeit_als_Konfliktursache_und_M%F6glichkeiten_der_Bearbeitung.html. Zugriff am 20.12.2009.

Schneckener, Ulrich2007. "Fragile Staatlichkeit und State-building. Begriffe, Konzepte und Analyserahmen". in: Beisheim, Marianne/Schuppert, Gunnar Folke (Hrsg.). Staatszerfall und Governance (Schriften zur Governance Forschung, Band 7). Baden-Baden. S. 98-120.

Weber, Max.1972. Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Auflage. Tübingen.

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