Nicht Gastarbeiter, Menschen kamen

Der Regisseur Erpulat hätte es beim Wegräumen der Feudalgesellschaft und dem wirtschaftlichen Faktor bewenden lassen können, doch er wollte mehr. Mehr, als den blinden Karrierismus zu beleuchten oder eine Firma wie die Gazprom Germania heranzuziehen. Die russischen Verhältnisse werden beinahe ausgespart, stattdessen kapriziert er sich auf deutsch-türkische Gegensätze – und Historisches. Gastarbeiter wurden gerufen, aber Menschen kamen. Die vollständige Gleichberechtigung der Gerufenen liegt Erpulat besonders am Herzen, in einem Maße, dass er auch den Nebenrollenstatus von Fremdverwurzelten im Theaterbetrieb anspricht. Im Anfang sehen wir eine Frau in Ganzkörperbekleidung, die auf dem Klavier deutsche Heimatlieder klimpert, die selbst bei manchen Menschen mit Heimatbiografie ein Grauen erzeugen. Und Lopachin (Taner Şahintürk) liest ein wenig aus Kants berühmter Aufklärungsschrift vor, die den "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" thematisiert. Mit diesem kleinen Essay wurden schon etliche Gymnasiasten traktiert, und er findet auch immer wieder Eingang ins Theater.

Reißerische Aufdringlichkeit

Einerseits macht sich Lopachin über das antiquierte Aufklärungsgerede lustig, aber anderseits fühlt er sich wie jemand, der sich seines Verstandes bedient als Griff zur Aufstiegsleiter. Er kämpft mit dem Furor eines Ex-Unterdrückten, der die oben Schwimmenden noch unten drücken möchte – in dieser Inszenierung ist es ein Kampf für die türkische Sache, für die gesellschaftliche Teilhabe der Gastarbeiter-Generation. Das Ganze geschieht nicht feinfühlig und subtil, sondern mit reißerischer Aufdringlichkeit. Die Figuren sind teilweise nur personifizierte Botschaften und Gedankenträger, beispielsweise Trofimow (Aram Tafreshian), der aber auch in Tschechows Vorlage massive Sozialkritik betreibt. Gajew (Falilou Seck) wirkt seriöser als in den meisten Kirschgarten-Inszenierungen und die Gorki-Veteranin Ruth Reinecke hat ihr Oma-Image abgelegt, um mit gelockter Haarpracht etwas Chefin-Frische hinzulegen. Eine Travestie-Künstlerin gibt es auch: Fatma Souad, zu ihrem Glück unterhalb eines adipösen Ernährungszustands liegend, taucht hinab in die bodenlosen Schwingungen der Berliner Underground-Kultur.

 

Halbmond ohne Stern

Was Nurkan Erpulat aus dem Diener Jascha (Tamer Arslan) macht, ist etwas fragwürdig. In Jascha steckt ein kleiner, wendiger Lebemann, doch hier wird er zu einem Kraftmeier, dem jegliche Sensibilität abgeht. Was sich vor dem Kauf des Kirschgartens durch Lopaschin abspielt, ist leicht haarstäubend. Die Figuren, teilweise in traditioneller deutscher Heimatkleidung steckend, klammern sich mit zittrigen, wackligen Beinen an der Wand fest – dieses Zucken ist ein Theatermittel, das selten gutgeht. Und die Tochter Anja (Marleen Lohse) läuft ständig auf der Stelle herum, ohne sich fortzubewegen. Nach dem Erwerb des bislang unrentablen Geländes ist Lopachin wie entfesselt, er reißt die Tapeten ab und wirft schließlich die Wand um. Nun kommen türkische Musikanten zum Vorschein, die ein Folklore-Meeting zelebrieren und damit über die abendländische Kultur triumphieren. Im Hintergrund leuchtet ein Halbmond ohne Stern vor einem grünen Hintergrund: Ein solches Grün mit Halbmond wird üblicherweise in Moscheen eingesetzt. Von all den Charakteren, die ohne authentische Persönlichkeit auskommen müssen, ist Sesede Terziyan noch der ernsthafteste. Ein viel zu greller Auftakt im GOЯKI Theater. Gerade noch erträglich.

Der Kirschgarten
Eine Komödie von Anton Tschechow
Deutsch von Angela Schanelec

Ursprüngliche Übersetzung von Arina Nestieva
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Musik: Sinem Altan / Tobias Schwencke, Licht: Norman Plathe, Dramaturgie: Daniel Richter.


Mit: Sesede Terziyan, Taner Şahintürk, Falilou Seck, Tamer Arslan, Mareike Beykirch, Çetin İpekkaya, Marleen Lohse, Ruth Reinecke, Özgür Ersoy, Aram Tafreshian, Fatma Souad, Sinem Altan, Mehmet Yılmaz.

Maxim Gorki Theater Berlin

Premiere am 15. Dezember 2013, Kritik vom 19. Dezember 2013

Dauer: 140 Minuten, keine Pause

Bild 1: © Steffen Kassel

Bild 2: Anton Tschechow 1903 © Wikimedia

 

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