Gorki Theater Berlin: Kritik von "Ausser sich"- S. M. Salzmann/Sebastian Nübling
Premiere. Eine Inszenierung mit harten Schicksalen, Gewalt, Geschlechtsumwandlung und Inzest. Die meisten Figuren sind auf der Suche nach sich selbst – einige scheitern.
© Esra Rotthoff
Migration von Russland nach Deutschland
Ali mag ihren Bruder Anton in einem Maße, das über die übliche Geschwisterliebe hinausgeht. Als er sich als Jugendlicher mit einem etwas älteren Mädchen einlässt, knallt sie in der Toilette aus Wut ihren Kopf gegen die Wand. Älter geworden, kommt es noch vor Istanbul zu einer Inzest-Szene. Traurig über den Verlust des Vaters Kostja (Falilou Seck), der sich betrunken den Balkon heruntergeworfen hat, kommt es nach einigen Wochen zum Sex mit Anton. Salzmann beschreibt das sehr ausführlich, detalliert, bis in die kleinste Berührung hineingehend, doch Regisseur Nübling schafft es nicht, das anschaulich in Szene zu setzen. Die damals Kleinen sind noch in der Sowjetunion aufgewachsen, erst im postsozialistischen Russland emigrieren die Eltern Kostja und Valja (Anastasia Gubareva) und ihre Kinder nach Deutschland, wo sie nicht selten ihre Migranten-Unterkünfte wechseln. Es wundert ein wenig, warum Valja einem nicht mehr sozialistischen Grenzbeamten mit 200 Dollar bestechen muss. Auch hier gelingt keine Identitätsfindung,keine Zufriedenheit mit sich selbst, niemand fühlt sich wohl in seiner Haut, davon ist hauptsächlich der Nachwuchs betroffen. Breitkreuz' Ali(ssa) fühlt sich in ihrem Körper wie eingesperrt, sie spürt durch Testosteron eine Kraft in sich wachsen, doch ihrem Schicksal kann sie nicht entrinnen, egal ob Mann oder Frau. Dialoge wechseln sich mit längeren Monologpartien ab. Nübling geht es vor allem darum, eine problematische Familiengeschichte zu erzählen – eine adäquate Bebilderung bleibt dabei weitgehend auf der Strecke.
Tränengas unterbricht Liebe im Gezi-Park
Salzmann macht es dem Regisseur auch nicht leicht, sie hat eine Menge in die komprimierte Textfassung reingepackt. Sogar die 2013 im Istanbuler Gezi-Park stattfindenden Proteste gegen Erdogan und die umweltschädliche Bebauung sind vertreten. Katho und Aglaja (Polina Lapkovskaja, häufig an ihrem Bass zupfend und auch singend) geraten in einen Tränengas-Nebel, müssen, wie so viele Demonstranten, weinen und Aglaja bekommt eine Gasdose an den Kopf geschleudert und wird dann in ein Krankenhaus eingeliefert. Eine Bühne (Magda Willi) ist auch vorhanden, aber sie fällt nicht gerade wegen ihrer Originalität auf und erweist sich als unauffällige Spielfläche. Der Text ist sehr interessant, wenn auch hoffnungslos prall und überfrachtet, bedauerlicherweise kommt das Schauspiel recht spröde rüber. Glücklich ist in dieser Familie niemand. Die Schauspieler*innen indes agieren, als befänden sie sich trotz der Beschwernisse in relativ "normaler", einigermaßen erträglicher Stimmung. Manchmal wird so laut geschrien, dass man massive akustische Probleme bekommt. Insgesamt ist Regisseur Nübling mit diesem sperrigen, komplizierten Text etwas überfordert.
Außer sich
nach dem Roman von Sasha Marianna Salzmann
Regie: Sebastian Nübling, Bühne: Magda Willi, Kostüme: Svenja Gassen, Livemusik: Polina Lapkovskaja, Dramaturgie: Anna Heesen, Mazlum Nergiz.
Mit: Margarita Breitkreiz, Sesede Terziyan, Mehmet Ateşçi, Falilou Seck, Anastasia Gubareva, Kenda Hmeidan, Polly Lapkovskaja.
Gorki Theater Berlin, Premiere vom 12. Oktober 2018
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)