Lea Draeger, Mehmet Ateşçi, Mareike ...

Lea Draeger, Mehmet Ateşçi, Mareike Beykirch, Taner Şahintürkk (Bild: © Esra Rotthoff)

Der Fuß ist wichtiger als die Liebe

Lea Draeger als Leyla hat Blasenprobleme. Das Urinieren funktioniert noch, aber nicht der Fuß. Wie viele ehrgeizige Ballerinas hat sie aufgrund einer massiven Überbelastung Fußprobleme, die die Bolschoi-Herrlichkeit zu vereiteln drohen und an die frühe, ungewöhnlich literarische Autobiografie von Ute Lemper erinnern. Mit geradezu konservativer Strenge arbeitet Leyla an ihrer Karriere, die jenseits des Parvenüstatus eine Daueretabliertheit garantieren soll. Der im Bett unbrauchbare Fuß ist zunächst sogar wichtiger als die konvulsivisch aufkeimende Liebe zu Jonoun (Mareike Beykirch), die als lesbische New Yorkerin in Berlin die totale Hingabe einfordert und die Liebe über den Beruf stellt. Ein softknusprig gebliebenes Klappergestell und eine robuste US-sozialisierte Frau, beide mit Knieschonern ausgestattet, weil der Regisseur Nurkan Erpulat in die Vollen geht und die Selbstverausgabung beinahe programmatisch einfordert. Es kommt zu Eifersüchteleien und wilden Liebesszenen, die an mit Liebkosungen durchsetze Kämpfe erinnern. Zartheit und Ringeinlagen als erotische Aufputschmittel. Das ist paradigmatisch für dieses Stück: Die Forcierung der Handlungen als Anti-Valium-Paket für jene, die im Alltag oder im Geist bis an die Grenze gehen möchten.

 

Wie in einem artifiziellen Supermarkt

Der Titel von Olga Grjasnowas Roman ist irreführend. Die Heirat ist juristisch scharf. Unscharf sind die Verhältnisse, in denen Leyla und Altay leben, rein emotional betrachtet. Die Ehe bietet Sicherheit, Kommunikation, Ratgeber-Vorteile und erotische Defizite. In der Sexualität lässt sich auch Altay nicht lumpen, in Berlin ist er ein entfesselter, bettentauschender invertierter Partygänger und zuletzt im aserbaidschanischen Baku lässt er sich mit einem hochrangigen Oppositionellen ein, dessen Zungenschläge einen fulminanten Grad des Genießertums zu erreichen scheinen. In Baku sind die Gesetze scharf, auf andere Weise scharf sind die inoffiziellen Treffpunkte der Szene. Etwas arg viel wird im zum Drama erhobenen Roman reingepackt, etwa der – leider gescheiterte – arabische Frühling, der teilweise zu einer reaktionären Restauration führte, und auch die kulturelle Souveränität des Westens. Durchindustrialisierung, Freizügigkeit und auch Homosexualität als Überlegenheitswaffen? So ganz funktioniert das nicht, zumal die Homosexualität im Westen zwar juristisch anerkannt, aber noch immer nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Im Gorki Theater kommt man sich auch diesmal vor wie in einem artifiziellen Supermarkt, in dem für jeden etwas griffbereit in den Regalen steht. Kurz: Nurkan Erpulat hat mit seiner thematischen und visuellen Dauerekstase etwas zu viel gewollt. Ältere, partybelastete Jahrgänge, und dazu gehört auch der Kritiker, fühlen sich angesichts der wabernden, teilweise verstrahlten Club-Atmosphäre bestenfalls an frühere Zeiten erinnert. Nun, ein Reminiszenz-Abenteuer ist diese Inszenierung trotzdem nicht. Der Applaus war für Gorki-Verhältnisse relativ dünn. Angesichts der permanenten Inbetriebnahme von Kopf und Bauch ist der Premierenabend dennoch passabel.

Die juristische Unschärfe einer Ehe
nach dem Roman von Olga Grjasnowa
Textfassung von Nurkan Erpulat
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne: Kathrin Frosch, Kostüme: Pieter Bax, Musik: Valentin von Lindenau / kling klang klong, Video: Sebastian Pircher, Bewegungschoreographie: Nir de Volff/TOTAL BRUTAL, Dramaturgie: Daniel Richter; Licht: Hans Fründt.

Es spielen: Lea Draeger, Mehmet Ateşçi, Mareike Beykirch, Taner Şahintürk.

Gorki Theater Berlin

Uraufführung vom 24. Oktober 2015
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

 

 

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