© Esra Rotthoff

 

 

Zwischen Liebe und Verrohung

Linda Vaher und Loris Kubeng spielen zunächst die eigenwilligen Kinderzwillinge, die zwischen Zwangsanpassung und individuellem Aufbegehren pendeln. Sie und andere entwerfen ihre Emotionen auf von der Decke heruntergerollten Papierstreifen, auf denen sie in Stimmungsbildern plump pittoresk eine Sehnsucht verlorener Heimat zu illustrieren versuchen. Die spontan-künstlerischen Malereien, handwerklich geschickt bis ungeschickt herausgehauen und das symbolische Gemeinte offerierend, nehmen kein Ende. Wenn ein Repräsentant des heiligen Stuhls auftaucht, sehen wir in der Papyrus-Glorifizierung ein Kreuz. Wir sehen aber noch mehr: Jonas Anders tritt unvermittelt beim harten Schicksal der Zwillinge auf und ergeht sich in körperlichen Verrenkungen eines von Spasmen heimgesuchten Epileptikers, der in Satirezeitschriften wie "Mad" und in Schulen schon immer ein Amüsierprogramm war, hier aber nicht denunziert wird, als sei er von ursprünglicher Natürlichkeit. Die Musik? Ein Synthie-Rhythmus-Geblubber im Hintergrund, das, wenn es ernst wird, komplett aussetzt. Ans Eingemachte geht es allerdings nur in seltenen Fällen. Eine Erschwernis für die Rezeption ist es, dass irgendwann jeder jeden spielt, jeder in die Rolle eines anderen schlüpft, als seien die Personen nur austauschbare Typen, keine Individuen. Falilou Seck, ein großartiger Schauspieler, ist zunächst ein rigoroser Polizeibeamter und Militär, wird aber in dem gewaltigen, uferlosen Drei-Romanen-Projekt im Exil zu einem Zwillingsbruder, der trotz Härte von einem melancholischen Schleier umflort ist. Man findet sich nie – bei Erpulat sind es die äußeren Umstände, das bösartige Schicksal, das Geschick.

 

Inneres und äußeres Exil

Es wird viel geküsst, fast ausschließlich unter den überbesetzten Männern. Aber die Küsse sind nur der letzte Aushauch einer Seele, die sich an den letzten Ast klammert. Die Fährnisse des öffentlichen Lebens sind zu gewaltig. Als sich Claus unter dem Rakosi-System in eine Bibliothekarin (Çiğdem Teke) verliebt, erlebt er trotz eines offensichtlich seelisch bedingten dionysischen Taumels eine Ernüchterung in einem System, das die Herzen vorsichtig und kühl stimmt. Man kann seinem Schicksal nicht entrinnen, das ist die Botschaft von Nurkan Erpulat. Er entfaltet eine simplifizierte Tragödie, die in der die Suche nach dem großen Glück – was auch immer das sein mag - nur in ein flüchtiges Glück tief erlebter Augenblicke mündet. Um das Ganze zu entschärfen, werden als existentielle Abwehr Kreativreaktionen – das Bepinseln von Papierrollen – in Szene gesetzt. Das ist alles ganz nett anzusehen und Erpulat entwickelt zuweilen formidable Szenen, die bedauerlicherweise nur kraftvolle Einsprengsel sind in einem Zusammenhang, der vom Aneinanderkleben verschiedener Einfälle lebt, die Zeitschübe markieren sollen. Die Seele glüht, vor allem in der Darstellung von Taner Şahintürk, aber meistens ist sie abgehärtet und verroht, angesichts der äußeren Umstände. Wir sehen die Entmenschlichung von Menschen in einem System, das die einsamen, ringenden Seelen nur als Gebrauchswert und Produktionseinheit versteht und viele mit privaten Blessuren ins Zwangsexil "entlässt". Ein interessantes Thema, das leider zu verspielt ist und an der der Überspielung von Charakteren krankt.

 

Hundesöhne
von Ágota Kristóf
Fassung von Nurkan Erpulat und Arved Schultze nach den Romanen "Das große Heft" / "Der Beweis" / "Die dritte Lüge"
Regie: Nurkan Erpulat, Choreografie: Modjgan Hashemian, Bühne: Moritz Müller, Kostüme: Lea Søvsø, Musik: Michael Haves, Dramaturgie: Arved Schultze
Es spielen: Falilou Seck, Linda Vaher, Taner Şahintürk, Jonas Anders, Loris Kubeng, Çiğdem Teke.
Gorki Theater Berlin, Premiere vom 18. Oktober 2017

Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause

 

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