© Esra Rothoff

 

 

Gute Gesänge, aber katastrophale Texte

Deutsche Volkslieder bestimmen die Atmosphäre, neben unabdingbarem Volkstum-Schrott werden sogar Wagner, Bach und Eichendorff-Texte aufgefahren. Es wird grandios gesungen, leider erinnert das Unternehmen zuweilen an musikalisch kräftig untermalte russische Spielfilme aus der Zeit des tablettensüchtigen, den Rücktritt fordernden Leonid Iljitsch Brechnew, der dann, um aus Hobby- und Profilierungsgründen unverbrüchliche Kraft zu vermitteln, 1979 Afghanistan überfallen hat. Aber über derartige Unterdrückungen hören wir nichts. Mehmet Yılmaz übrigens hält, was die Mimik anbelangt, einen phantastischen Vortrag, der aber in Klischees nahezu versinkt. Was ist den Migrant*innen nicht alles an Unmöglichkeiten widerfahren! Tatsache aber ist, dass es den Deutschinnen und Deutschen kaum besser ging, auch Leibesvisitationen in den 80er-Jahren im Kreiswehrersatzamt für Bundeswehrtauglichkeit komplettierten das volle Programm. Für Migranten, so die Inszenierung, war das offensichtlich demütigend. Während der ganzen Inszenierung: Kein Wort über herzliche unpolitische deutsch-türkische Beziehungen, die immer weiter anwachsen. Stattdessen werden wahrhaft despektierliche Politiker-Sprüche mit zugehöriger Illustration massenhaft ausgebreitet, und das in manchen Fällen sogar mit Recht. Im Volk ist das nur partiell angekommen. Irgendwann wundert man sich, warum diese respektablen Menschen überhaupt nach Deutschland gekommen sind. In der Heimat war es doch viel schöner. Bei einer derartigen Systemkritik würde man sie sofort wegsperren, wenigstens hier kann man sich Luft verschaffen.

 

Grenzenlose Empörung

Das ist die schlechteste Inszenierung seit der Intendanz von Shermin Langhoff, die immerhin fünf Jahre andauert. Wie grausam das doch alles in diesem Land ist – es ist eine nahezu masochistische Jammerlappen-Veranstaltung, die die Verbrechen von Solingen und Mölln naturgemäß zur Sprache bringt. Und bei den Linken geht es "uns" auch nicht besser. Man neigt dazu, eine empörte und betroffene Schauspielerin in den Arm zu nehmen – aus humanistischen Überlebensgründen, dabei geht es so manchen Deutschen kein Streich besser, zumal, wenn man Bauarbeiter- und Möbelpacker-Arbeiten hinter sich hat. Man kann die missratenen Verhältnisse in Deutschland durchaus anprangern, aber bitte etwas subtiler und nicht so plump. Sesede Terziyans Auftritt ist ohne weiteres glänzend, weiblich majestätisch, zuweilen irisierend, doch die Worte, die ihr Erpulat in den Mund gelegt hat, klingen nach einer pseudohaften verbalen Entrüstungsoffensive, auch wenn man sich längst etabliert hat und deutsche Underdogs unter sich weiß. Kurzes Fazit: Eine Klischee-Jagd nach der anderen, doch berauschender Gesang. Der achso betroffene Text? It's only the rubbish, something about the Trashcan.

 

Lö Grand Bal Almanya. 57 Jahre Scheinehe – Ein Singspiel
von Nurkan Erpulat und Tunçay Kulaoǧlu
Regie: Nurkan Erpulat, Musikalische Leitung und Live-Musik: Tobias Schwencke, Ton: Hannes Zieger, Bühne: Alissa Kolbusch, Kostüme: Peter Bax, Dramaturgie: Tunçay Kulaoǧlu.
Mit: Sesede Terziyan, Emre Aksızoğlu, Mehmet Yılmaz, Elmira Bahrami, Loris Kubeng, Tanju Giri ken, Katharina Koch, Željko Marović.

Gorki Theater Berlin, Premiere vom 25. Mai 2018
Dauer: Zwei Stunden, 15 Minuten, keine Pause

 

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