Gorki Theater Berlin: Kritik von "Musa Dagh - Tage des Widerstands" - Kroesinger
Premiere. Eine Dokumentation über den türkischen Völkermord an den Armeniern vor hundert Jahren. Das Thema wird von allen Seiten beleuchtet.(Bild: © Esra Rotthoff)
Alle möglichen Perspektiven werden aufgegriffen
Immer wieder wird Bezug genommen auf Franz Werfels Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh". An diesem Berg verschanzten sich rund 5000 Armenier, die, eine Diaspora in einem als unbewohnbar eingestuften Ödland ablehnend, sich gegen die türkische Armee zur Wehr setzten. Hier entsteht eine ideale Spiel- bzw. Dokumentationsfläche für Kroesinger: Er lässt alle Seiten zu Wort kommen, auch die sogenannte Gegenseite. Die Zuschauer hören von Hitlers späterem Statement zur Sache, aber auch den damaligen Reichskanzler Bethmann Hollweg, den die Unterdrückung von Minderheiten nicht scherte, solange die Türkei der Bündnispartner Deutschlands war. Der Bundestag weigert sich heute noch beharrlich, diese systematische Zerschlagung als Völkermord anzuerkennen. Hinter den Schauspielern stehen große Regale, angefüllt mit Akten. Daraus entnehmen die Akteure die verschiedensten Einschätzungen und Stellungnahmen, und niemand zieht die Authentizität des Materials in Zweifel. Was Kroesinger im Grunde betreibt, ist ein politischer Bildungsförderungsverein für Anfänger und Fortgeschrittene. Was man eigentlich zuhause nachlesen kann, bekommt man hier ohne künstlerisch verbrämten Firlefanz gratis geboten. Kein Wunder, dass man bei Kroesinger-Abenden immer wieder Politiker der Grünen auftauchen sieht, etwa Ströbele bei "Exporting War". Diesmal ließ sich wieder eine kleine Grünen-Fraktion blicken - Renate Künast und Cem Özdemir -, die wohl kaum aus ästhetischen Gründen gekommen ist.
Übergang zum Spiel
Immerhin liefert diese Bildungsaufführung auch einen zweiten Teil, bei dem tatsächlich etwas geschauspielert wird. Am Musa Dagh wird an der Errichtung eines Schiffsrumpfes gearbeitet, der als ein Bollwerk oder Schutzwall gegen die anstürmende Türkenmacht dienen soll. "Arche Noah"!, entringt es sich einem Zuschauer, die ja schließlich, dieser Bezug lässt sich herstellen, am Berg Ararat gestrandet ist. Hier geht es endlich einmal um das Leben der Notleidenden, nicht darum, wie Politiker und Historiker die geplante Eliminierung bewerten.
Die Lage wird eng - die Munition ist knapp und der Essensvorrat geht zu Neige -, bis schließlich englische und französische Schiffe wie aus dem Nichts auftauchen und die Eingekesselten retten. Der Übergang zum Spiel wirkt allerdings nur wie ein Anhängsel, das dem theoretischen Teil lediglich angeheftet wird. Der Abend ist anscheinend so gedacht, dass Parallelen zur Gegenwart gezogen werden können. Ein Teil des Gebiets, wo damals die Armenier zunächst lebten, dann vegetierten, befindet sich heute auf syrischem Boden. Und dort wird der Kampf gegen Minderheiten unverbrüchlich fortgesetzt, als gäbe es keine Vergangenheit, die zurück zu Ordnung und Humanität ruft. Bei Kroesinger weiß man immerhin, was auf einen zukommt - also braucht man sich hinterher auch nicht zu beschweren.
Musa Dagh – Tage des Widerstands
von Hans-Werner Kroesinger
nach dem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" von Franz Werfel
Regie: Hans-Werner Kroesinger, Bühne und Kostüme: Valerie von Stillfried, Musik: Daniel Dorsch, Dramaturgie: Aljoscha Begrich, Künstlerische Mitarbeit: Regine Dura.
Mit: Falilou Seck, Till Wonka, Judica Albrecht, Marina Frenk, Ruth Reinecke, Armin Wieser,
Premiere vom 7. März 2015
Dauer: 100 Minuten, keine Pause
© Esra Rotthoff
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)