Sandra Selimović

 

Foto: Esra Rotthoff

 

 

Nicht wahrgenommene Anziehungskraft

Was da von der zur Kult-Regisseurin aufgestiegenen Yael Ronen veranstaltet wird, ist ein Happening. Das Publikum zieht entsprechend mit, spontane Ovationen sind keine Seltenheit, man erhebt sich, am Ende findet eine überschwängliche Freudensekstase statt (Aufführung vom 16.9.2017). Ein Bauer, der sein Leben in einem idyllischen provinziellen Nest verbringt und einmal im Jahr an die Costa Brava fährt, wird vermutlich denken: Die sind ja genauso wie wir! In der Tat: Die Schauspieler*innen sind längst verwestlicht, hängen aber an Traditionen und pflegen folkloristische Elemente, die mit betörendem Gesang einherkommen. Entzückend, wie die romni-serbische Österreicherin Simonida Selimović ihren Gesangspart bewältigt und dabei überwältigt, das geht unter die Haut. Sie entspricht ganz den herkömmlichen westlichen "Zigeuner"-Vorstellungen, ihre Haare sind pechschwarz, wie bei einer gefährlichen verführerischen Hexe. Eine Gipsy-Queen, gelegentlich in der Rockmusik besungen. Der Begriff "Zigeuner", heute zu recht ein Unwort, hatte aber in der Vergangenheit bei nicht wenigen Menschen keine negative Konnotation – wer nicht auf Abstammung, Blut und dergleichen mehr setzt und einfach nur auf das Individuum achtet, bewunderte insgeheim die Grenzen sprengende Unabhängigkeit und die weibliche Rassigkeit. Obwohl letzterer Begriff eher bei Pferden angewendet werden sollte. Exotismus, Abenteuer in ungeahnte Gefilde spielten hier auch eine Rolle.

 

Forciertes Pochen auf Eigenständigkeit

Mitunter fühlt man sich wie bei einem Revue- und Travestie-Theater. Die Schauspieler*innen zeigen sich gerne in Leder, Latex oder Netzstrümpfen und plaudern unverblümt ihre sexuelle Orientierung aus. Besonders direkt ist Sandra Selimović, die ihr hochgradiges Lesbentum derart offensiv ausstellt, dass man es mit der Angst zu tun bekommt. Nun, im westlichen Europa hat sie leicht reden, im Gegensatz zum Osten (Hamze Bytyci hat ungewollt eine Ähnlichkeit mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán), und André Gide konnte sich im damaligen Frankreich für die Päderastie auch nur deshalb einsetzen, weil sie gesetzlich nicht verfolgt wurde. Im Adenauer-Deutschland hingegen gab es den berüchtigten § 175 und Homosexuelle waren, gelinde gesagt, unerwünscht. Im Gender-Club Gorki, der sich dem Kampf gegen jedwege Unterdrückung verschrieben hat, fühlen sich manche Zuschauer*innen mittlerweile wie in einem Wohnzimmer – oder zumindest in einer komfortablen b-flat. Tatsächlich inszeniert Yael Ronen ein grandioses Spektakel, eine Revolutionsausrufung, um den Spieß einmal umzudrehen, ein Feuerwerk und in einer enigmatischen Szene leuchten sogar die Fackeln. Allerdings läuft man dabei Gefahr, visuell eingelullt zu werden. Die großartige Romni-Engländerin Riah May Knight beispielsweise spielt ihre Sprech- und Gesangparts derart professionell, dass sogleich der Eindruck entsteht, die sind längst im routinierten Halb-Establishment angekommen und reden für jene, die man nicht nach oben gelassen hat, nicht mal ins zähneknirschend anerkannte Kleinbürgertum. Gewiss, es ist eine wichtige Inszenierung. Mit viel Show, die erfolgreich Plattitüden übertüncht, aber den Blick leicht verblendet.

Roma Armee
von Yael Ronen & Ensemble
nach einer Idee von Sandra Selimović, Simonida Selimović
Regie: Yael Ronen, Bühne: Heike Schuppelius, Malerei & Artwork: Damian Le Bas, Delaine Le Bas, Kostüme: Maria Abreu, Delaine Le Bas, Musik: Yaniv Fridel, Ofer Shabi, Video: Hanna Slak, Luka Umek, Dramaturgie: Irina Szodruch.
Mit: Simonida Selimović, Riah May Knight, Lindy Larsson, Hamze Bytyci, Mihaela Dragan, Orit Nahmias, Sandra Selimović, Mehmet Ateşçi.

Gorki Theater Berlin, Premiere war am 14.9.2017, Kritik vom 16.9.2017.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

 

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