Gorki Theater Berlin: Kritik von "Zement" – Sebastian Baumgarten
Premiere. Heiner Müllers Stück behandelt den Aufbruch nach der russischen Revolution. Das Alte muss getilgt werden, um den neuen Menschen zu schaffen.Das Ensemble (Bild: © Esra Rotthoff)
Säuberungsaktionen beflissener Postrevolutionäre
Tschumalow (Peter Jordan) hat den Architekten Kleist (Falilou Seck) engagiert, der noch ein Anhänger der moderaten Menschewiki ist. Eigentlich müsste der hingerichtet werden, damit die taufrische Sowjetunion von obsoleten, anachronistischen Bestandteilen gereinigt ist. Ohnehin geht es die ganze Zeit über um Hinrichtungen, je mehr, desto besser. Wenn von drei Ermordeten nur zwei Verräter waren und einer die Wahrheit sagte, ist das in Ordnung, so der radikalisierte Sowjetkämpfer Iwagin (Alexandar Radenković). Er ist die eiserne Faust, die auch mal auf den falschen niederfällt. Mit Feuereifer und Inbrunst hat Iwagin seine Eltern ausradieren lassen, denn die Familie ist, dem neuen Denken gemäß, die Keimzelle des Niedergangs. Nur Badjin (Thomas Wodianka), ein Agitator par excellence, erkennt den Wert intelligenter Reaktionäre, die durch strenge Umerziehung in die Bewegung integriert werden könnten. Eine tief in die Stirn gezogene Mütze tragend agiert er mit vorgeschobenem Unterkiefer, einer Art Wutkiefer, und zuweilen erinnert er ein wenig an jenen Klaus Kinski, der kurz vor einem hysterischen Ausbruch steht.
Kriegsbemalung als Kostümersatz
Manche Schauspieler sind bemalt, Peter Jordan beispielsweise trägt auf seinem nackten Oberkörper ein aufgezeichnetes rotes Hemd. Körperbemalung, besser: Kriegsbemalung als Kostümersatz. Groß ist diese Aussage nicht, sie generiert bestenfalls Auffälliges, hauptsächlich bei Matea Meded, die schon in Common Ground beeindruckt hat, aber nicht durch einen nackten Busen, der immer wieder unter einer Jacke hervorbaumelt.
Völlig entmenschlicht wirkt Sesede Terziyan als Dascha, die, gänzlich vereinnahmt von neuem System, zu einem Funktionswesen mutiert ist. Sie ist eine Organisierte, die eine Frauengruppe verwaltet und Lenins Lehren verinnerlicht hat, kalt und unbarmherzig und unerschrocken. Es zählt nur noch der revolutionäre Impetus: Es geht ums Ganze, noch nie hat Terziyan, die diesmal wie ein geschrumpfter Titan wirkt, einen solch verbitterten Ernst gezeigt, als wolle sie Tschumalow im nächsten Augenblick an die Gurgel springen. Wie alle vom Taumel Erfassten möchte Dascha Geschichte schreiben, schließlich ist sie aufgegangen in einem triumphalen Wir-Gefühl. Da gibt es keine Liebe, sondern nur Leichen, über die man geht. Das Herz ist stumpf und ausgesogen von der Revolution. Nebenbei gesagt wäre Heiner Müller auch der Letzte gewesen, der über eine romantische Liebe zu schreiben vermochte.
Revanche- und Abrechnungsgelüste
"Der proletarische Staat ist eine Maschine zur Niederhaltung der Bourgeoisie", steht auf einer Tafel. Etliche Kleinanführer werden von Revanche- und Abrechnungsgelüsten geleitet: Die Unterdrückten werden zu brachialen Unterdrückern. Das entsakralisierte Jüngste Gericht. Das Aussortieren verläuft fast wahllos, folgt keinem revolutionären Algorithmus. Wer einst der Errichtung einer befreiten Gesellschaft verhaftet war, übt nun seine privaten Machtspielchen aus und verliert sich im Rausch von Allmacht und Selbstgenuss. Der vorläufige Stillstand – viele Menschen hungern, es gibt zu wenig Arbeit – überträgt sich nicht auf Baumgartens Inszenierung: Ihm ist ein erstaunlich bunter Abend gelungen, in dem kein Leerlauf zu finden ist, kein Abfall und kein retardierendes Moment. Im Vergleich zu Gotscheffs Inszenierung, die letztes Jahr beim Theatertreffen eingeladen war, fehlt nur ein wenig der ästhetische Zauber. Dafür liefert Baumgarten eine Fülle von Bildern, die nie ins effektvoll Kitschige abgeleiten oder als arabeskenhafte Zutaten wirken. Die sehr gewöhnungsbedürftigen Hinrichtungen, die Disharmonie des Geschilderten werden konterkariert durch die Homogenität des Ensembles.
Zement
von Heiner Müller
nach einem Roman von Fjodor Gladkow
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne: Hartmut Meyer, Kostüme und Video: Jana Findeklee, Joki Tewes. Musik: Andrew Pekler, Licht: Jens Krüger, Dramaturgie: Ludwig Haugk.
Mit: Thomas Wodianka, Matea Meded, Falilou Seck, Peter Jordan, Sesede Terziyan, Aleksandar Radenkovic, Cynthia Micas, Aram Tafreshian.
Premiere vom 16. Januar 2015
Länge: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)