Constanze Becker

Constanze Becker (Bild: © Theater der Zeit)

Thalheimer ist kein Mediziner

Es wurde und wird viel Fragwürdiges über Michael Thalheimer geschrieben. Man hat den Begriff der "chirurgischen Präzision" ins Feld geführt, unter anderem auch im Klappentext. Eine solche Bezeichnung geht bestenfalls als Übertreibung, als Hyperbel durch: Ein noch so guter Regisseur kann sich dem Kern eines Wesens vielleicht annähern, doch niemals mit medizinischer Exaktheit, bei der alles bis ins Kleinste stimmen muss und ein minimaler Fehler fatale Folgen haben kann. Der angebliche "Skelettierer" Thalheimer arbeitet übrigens auch mit Überzeichnungen, die als Enthüllungen fungieren sollen, aber der Wahrheit, was auch immer das ist, kaum ein Stück näherkommen. Auf die Arbeit des Regisseurs lässt sich das entelechische Prinzip anwenden: Es geht nicht ums Entwickeln, sondern ums Auswickeln und Enthäuten – die Schalen wegwerfen, um zum Kern vozustoßen. Der vielleicht aussagekräftigste Schütt-Gespräch mit Thalheimer liest sich an einer Stelle wie ein nachträglicher Kommentar zu Nietzsche, eine Art Anti-Nietzsche: "Wir haben die Bindungen nach oben gekappt, gleichsam mit den Muskeln unseres Geistes. Wir haben uns für eine Art Obdachlosigkeit entschieden". In summa: Es gibt keine übergeordnete metaphysische Instanz mehr, der Mensch ist auf sich allein gestellt, muss und will sich selbst verwirklichen – und das führe zwangsläufig zur abzulehnenden Selbstermächtung.

 

Kalte Duschen werden irgendwann warm

Hier eröffnen sich existientielle Chancen, das sieht auch der ihm ans Berliner Ensemble folgende Dramaturgie-Professor Stegemann so. Thalheimer ein Existentialist? Nichts wäre falscher. Seine Figuren sind gefangen im "Man" (nach Heidegger), wo die nackte Anpassung vorherrscht, sie entscheiden selten und erleben dadurch auch keine Freiheit. Sie sind weit eher Getriebene, keine Antreiber – kurz, seine meisten Gestalten können ihrem Schicksal nicht entrinnen, selbst wenn sie sich mächtig wähnen. Denn der prätentiöse Zumuter Thalheimer will eben keine sich über alle Gesetze hinwegsetzenden Selbsterhebungen. Ergiebig sind vor allem die sensiblen Auslassungen von Reese und von Düffel, die des Meisters Proben beschreiben. Auf der Suche nach einem Weg, der zum Ziel führen soll, müssen die Schauspieler*innen so manche kalte Duschen hinnehmen, die endlich, nach ebenso profanem wie ritualisiertem Ablauf, zum Warmen hinleiten. Nina Hoss, deren wohl unvorteilhaftesten Archivbilder ins stark bebilderte Buch aufgenommen wurden, lässt sich über den innovativen Formverwalter folgendermaßen vernehmen: "...er sperrt nicht ein. Er stachelt dich zur Freiheit an. Wenn schon Form, also Zwang, dann immer so, dass du im Gefängnis nicht Häftling, sondern Wärter bist". Und Constanze Becker: "Diese Atmosphäre aus Suchen, Stocken, Weitersuchen habe ich bisher bei keinem anderen Regisseur erlebt."

 

Ein Buch ohne Daumen

Hans-Dieter Schütt ist der Allerletzte, der den Daumen nach unten oder oben bewegt. Was er in sein persönliches Pantheon erhebt, lässt sich an der Länge seiner Kritiken ablesen, beispielsweise ist der Beitrag über die in der Tat zweifelhafte Produktion "Der eingebildet(e) Kranke" an der Berliner Schaubühne 2017 nur eine lässig bewältige Kurzkritik, der es freilich nicht an seinem Kritikerstil, einer poetisch durchwirkten, analytischen Prosa auf der Suche nach ungewöhnlichen Kraft-Metaphern gebricht. Ohne Zweifel, Schütt gelingen mitunter großartige Gedanken, doch in den kritischen Furor mischt sich auch vermeintlich Schwächeres, etwa bei der Besprechung von Faust II. "Die Gestaltungskraft, diese kühne menscheitsumfassende Idee..." An diesem Satzbeginn ist, fürchte ich, alles falsch. Eine Gestaltungskraft hat nichts mit Kühnheit zu tun, sie kann menschheitsumfassend sein, ist es aber in den meisten Fällen nicht, und eine Idee ist sie schon gar nicht. Nun, der Respekt vor Schütts Lebensleistung verbietet es beinahe, auf einiges Danebengeratenes näher einzugehen. Im Grunde präsentiert er da - gleichsam unter der Hand - ein in seiner Zusammenstellung mehr als passables Buch, mit allen möglichen Details und etlichen grandiosen Inszenierungsfotos, wie geschaffen für Theaterfreunde.

Hans-Dieter Schütt: Michael Thalheimer. Porträt eines Regisseurs. Berlin, Theater der Zeit 2017. 287 Seiten.


 

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