Das Ensemble

Das Ensemble (Bild: © HL Böhme)

Ismene, die hilflose Mediatorin

Seht, hier ist Ismene, hier ist Franziska Melzer. In der Sprache gibt es einige Bibel-Attitüden, hinzu kommt noch eine zwar schöne, aber für heutige Ohren fremd klingende Sprache, vor allem wegen der Syntax. Dennoch ist alles gut verständlich auch für jene, die keine Klassiker-Ohren mehr haben oder nie gehabt haben. Ismene, die leisere Frau im Vergleich zu Antigone (Claudia Renner), versucht als neutrale Mediatorin den Kommunikationsprozess voranzutreiben und den Bruder-Streit zu schlichten. Doch die Fronten sind bereits verhärtet, man will nur noch mit dem Schwert kommunizieren. Melzer ist die einzige wahrhaft tragische Figur, während die anderen die Tragik nur spielen. Es wird erzählt, dass die Inszenierung ursprünglich mit Christian Weise geplant war – und das ist ein reiner Komiker. Der rasch eingesprungene Wellemeyer bewahrt das humorvoll Entlarvende, will offensiv lustig sein wie beim Boulevardtheater und gleichzeitig gehobenes Stadttheater-Niveau mit gedämpftem Tiefsinn liefern. Es ist ein Cocktail herausgekommen, der vor lauter Mixturen ein bisschen zu heftig gerührt wurde. Ein Mann, der seine Rolle ernst nimmt, ist René Schwittay, der als Ödipus agiert, begleitet von einer ungelenkig gewordenen Iokaste (Rita Feldmeier), die mehr als Nachtgespenst umherirrt und nicht mehr als ein paar Brocken von sich gibt. Was, König Laios ist ermordet worden? Das Orakel von Delphi will den Mord gesühnt sehen und verkündet vorübergehende Depression, die bis zur Aufklärung übers Volk von Theben ausgeschüttet wird. Das ist Chefsache für Ödipus, der auf der Suche nach dem Delinquenten jemand findet – und zwar sich selbst. Weil er so geistig blind war, sticht sich Ödipus die Augen aus und verbringt die letzte Zeit seines Lebens im Keller. Wenn er an die Oberfläche taucht, trägt er eine Nickelbrille mit Sonnengläsern. Damit könnte Schwittay jedes Bilderbuch der 70er-Jahre-Späthippies dekorieren.

 

René Schwittay vor dem Stier

© HL Böhme

 

 

Aus den Zähnen des Drachens, Zahn für Zahn

Es geschieht aber noch mehr in dieser dreistündigen Aufführung. Im Anfang ist nämlich Zeus, und er verkleidet sich als Stier und kidnappt Europa, was dazu führt, dass Kadmos auf der Suche nach seiner Schwester Europa einen Drachen erschlägt, aus dessen Zähnen die Krieger von Theben erwachsen. Der Mythos ist erzählt, so weit, so gut. Ein annehmbares Konterfei der Entführung findet sich auf der Bühnenrückwand. Aber was hat das uns Heutigen noch zu sagen? Stark jedenfalls ist der blinde Seher Teiresias (Christoph Hohmann), der an den unvergesslichen Sven Lehmann am Deutschen Theater erinnert ("Ödipus Stadt", 31.8. 2012). Blind und vermodert ist der stolpernde Prophet, aber intelligent und mit Weitsicht ausgestattet. Im Ganzen bewegt sich diese Inszenierung am Rande des Scheiterns – aber Wellemeyer gelingen immer wieder Sequenzen auf verblüffende Art. Die Einschaltung des extrovertierten Erzählers Jan Kersjes erweist sich zuweilen als Kunstgriff – obwohl Kersjes zwischen Genialität, erhabenem Darüberstehen und Trottelhaftigkeit oszilliert. Schade nur, dass die großartige Helvetierin Denia Nironen nur eine Nebenrolle einnimmt, erst gegen Ende darf sie einige scharfe Anklagen lostreten. Als Anklagepunkt lässt sich sagen: Wellemeyer hat alle Register der Stilmittel gezogen, er unterscheidet nicht zwischen Trash und der sogenannten Hochkultur. Es finden sich sogar Passagen, die bestens in ein schnell amüsierbares Provinztheater passen. Am Tiefen See scheint die Luft ein wenig raus zu sein. Das betrifft nicht nur das unter der Infrastruktur leidende Publikum, sondern auch etliche Schauspieler*innen. Einige bleiben, andere gehen zu einem anderen Theater und wieder andere wissen nicht wohin.

 

Europa

Soeren Voima

Nach Sophokles und Euripides

Regie: Tobias Wellemeyer, Bühne: Matthias Müller, Kostüme: Ines Burisch, Musik: Marc Eisenschink, Dramaturgie: Christopher Hanf.

Es spielen: Denia Nironen, Franziska Melzer, Claudia Renner, Rita Feldmeier, Sabine Scholze, Bernd Geiling, Jan Kersjes, René Schwittay, Florian Schmidtke, Christoph Hohmann, Philipp Mauritz, Frédéric Brossier, Friedemann Eckert.

Hans Otto Theater Potsdam, Premiere vom 7. April 2018.

Dauer: 3 Stunden, eine Pause

 

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