Franziska Melzer, Florian ...

Franziska Melzer, Florian Schmidtke, Michael Schrodt, Larissa Breidbach, Wolfgang Vogler, L. Rossetti (Bild: © HL Böhme)

Die Wilden im Reservat können noch lieben

Schlechte Karten hat, wer von Trägheit angewandelt ist und seinen einmal eingenommenen Sitzplatz nicht mehr verlassen möchte. Die Inszenierung beginnt im großen Saal, dann werden die Zuschauer aufgefordert, sich wegen eines Szenewechsels in einen Nebenraum zu begeben, um dann wieder die Pobacken im Hauptsaal einzugraben. Der Regisseur geht nicht chronologisch vor. Der erste Teil spielt in einem mexikanischen Reservat, wo die sich der hypermodernen Gesellschaft verweigernden Wilden leben – das sind für unser Verständnis die "normalen" Menschen, die noch lieben, altern und sich fortpflanzen. Der Alpha-Rebell Bernard Marx (Florian Schmidtke) holt sich von höchster Stelle die Erlaubnis ein, die rückständige, beinahe ekelerregende Zone der Unzivilisierten zu besuchen, wo er auf John Savage (Eddie Irle) und seine Mutter Linda (Melanie Straub) trifft. Irle, mit übergestülpter blonder Langhaarperücke, hat noch nie einen Leisetreter gespielt und dreht gleich mächtig auf, als sei ein desillusionierter Müslifreak ins dröhnende Schwermetall-Lager gewechselt. Melanie Straub, die nie bei romantischen Rollen eingesetzt wird, agiert als eine tragische Gestalt, als eine frustrierte Alkoholikerin, die auch mal ekstatisch auf einem abgewrackten Auto herumtanzt. Eine heruntergekommene Subkultur-Blumenlady, deren Seele schreit und anscheinend alles Leid der Welt auf sich geladen hat. Der in einem feinen Anzug steckende Bernard nimmt die beiden mit in die Zivilisation.

 

Melanie Straub, Eddie Irle

© HL Böhme

 

Im Labor der Konditionierung

Ist der erste Teil noch etwas langatmig und keineswegs atemberaubend, wird es anschließend turbulent, knallig-experimentell und surreal. Ort ist die besagte Brut- und Normzentrale, wo das Zuchtverfahren in vollem Gange ist. Die Tänzerin Luana Rossetti, eingehüllt in ein rosafarbenes Latexganzkörperkleid, wird auf einer Plattform bearbeitet und zelebriert eine entfesselte Sinnlichkeit, als habe sie einen gewaltigen Überschuss der Droge Soma eingenommen. Besser: Sie ist ein Symbol, das personifizierte Soma. In der Labor-Küche ist fast das gesamte Ensemble vertreten. Michael Schrodt als Henry Foster spielt eine Art Fabrikationsmeister mit glattem bis aasigem Geschäftsblick, während Wolfgang Vogler als Helmholtz eher zur harmlosen, gefälligen, dienstleistungswilligen Fraktion gehört. Obwohl die Darsteller*innen die Konditionierungsvorgänge erklären, wird nicht nur deklamiert, sondern das Gesagte in eine spritzige Handlung eingebaut. Franziska Melzer und Larissa Aimée Breidbach tragen Frisuren, die in die USA der 60er-Jahre passen. Letztere schwebt irgendwann mit männlicher Begleitung in die Lüfte. Ihr sind im wahrsten Sinne des Wortes Flügel gewachsen, wie nach einer besonders erfüllenden Bettnummer.

 

Eddie Irle, Florian Schmidtke

© HL Böhme

 

Wer sich nicht an die Ordnung hält, scheitert

Irles John Savage, der zu religiös motivierten Selbstgeißelungen neigt, ist in der Zivilisation ein gierig beäugter Exot, ein bizarres zoologisches Gewächs im Käfig. Gewohnt, an irgendeine Person seine forcierten Gefühle zu heften, macht er Liebesavancen, die aber von Lenina wegen des staatlichen Liebesverbots ausschließlich als Angebot für ein saftiges Sexabenteuer verstanden werden.- Im Programmheft ist Bernd Geiling aufgeführt, aber man sieht ihn nicht. Erst nach einer Weile merkt man, dass er der europäische Weltaufsichtsrat Mustapha Mond ist, nur bis zur Unkenntlichkeit verwandelt. Eigentlich nur mit ein Paar zarten Härchen ausgestattet, trägt Geiling einen Vollbart und nach hinten gekämmte Haare, die auf der Spitze des Rückhaupts zu einem Dutt zusammengefasst sind. Blick und Gestik sind kühl kalkulierend, geschäftsmäßig präzis und majestätisch. Er erklärt noch einmal die Vorzüge der modernen, gar so unheldenhaften, gänzlich kunstfreien Gesellschaft: Denk- und Individualitätsentsagungen gewährleisten ein unkriegerisches, gewissenloses Leben, angefüllt mit bescheidener Glückseligkeit. John Savage hingegen fühlt sich als Gefangener der Normierung und scheitert mit seinem ungestümen Freiheitsverlangen. Obwohl es manchmal einige Durchhänger gibt, schillert es nicht selten, bis hin zum gleißenden Licht. Die Zuschauer werden förmlich in diese künstliche Welt hineingezogen. Eine erstaunliche Inszenierung von einem Werk, das nicht so leicht auf die Bühne zu bringen ist.

Schöne neue Welt

Von Aldous Huxley

Theaterfassung und Übersetzung von Robert Koall

Regie: Alexander Nerlich, Bühne + Kostüme: Wolfgang Menardi, Musik: Malte Preuß, Choreografie: Anja Kozik, Dramaturgie: Christopher Hanf.

Es spielen: Bernd Geiling, Eddie Irle, Luana Rossetti, Franziska Melzer, Larissa Aimée Breidbach, Melanie Straub, Michael Schrodt, Wolfgang Vogler, Florian Schmidtke.

Hans Otto Theater Potsdam

Premiere vom 10. Juni 2016

Dauer: ca. 150 Minuten, eine Pause


 

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