Der Chor, plötzlich individuell ...

Der Chor, plötzlich individuell gekleidet (Bild: © Francke/Schall/HAU)

Die Wahrheit liegt im Chor?

Eine geistiger Nomade war er, der sich nirgendwo richtig heimisch fühlte. In der DDR aufgewachsen, übersiedelte Schleef 1976 in die BRD und wurde seitdem von einer transzendentalen Obdachlosigkeit heimgesucht, als habe er wie Chamissos Schlemihl seinen Schatten verkauft. Da kein System seinen Ansprüchen entsprach, fühlte er sich unbehaust, und das thematisierte er gnadenlos in seinen Inszenierungen, unter anderem auch den verstörten Blick auf die Mauer bei einem seiner zahlreichen Spaziergänge, die in der Sackgasse gelandet sind. Viele Menschen fühlten sich trotz der Widrigkeiten verankert, er aber nicht, der wie viele Künstler unter innerer Zerrissenheit litt. Wenn der Chor das mit kollektiver Kraft herausredet, ist das gut. Genauso wie bei Schleefs Stotterproblemen, die er in einer Selbsthilfegruppe zu heilen suchte. Er fühlte sich abgewürgt, ausgeschlossen, und diese Offenbarung einer existentiellen Krise macht ihn durchaus sympathisch. Der Chor schmettert es heraus, als sei es eine Wahrheit. Und ist es nicht Schleef, der gesagt hat, die Wahrheit liege im Chor, aber nicht im Individuum? Das ist Unfug, denn in der Masse, also im Chor, der minimalste gemeinsame Nenner, werden die individuellen, manchmal auch wertvollen Meinungen eingedampft, quasi aufgelöst, beinahe vernichtet.

 

Aus dem Kollektiv werden Individuen

Was sich die Inszenator*innen Janina Audick, Martina Bosse, Brigitte Cuvelier und Christine Groß ansonsten aus den Tagebüchern herausgefischt haben, grenzt ans Belanglose. Gut, Schleef lebte in der DDR unter schnüffelnden, reaktionären Eltern, beschäftigte sich mit Ostereiern und berauschte sich hemmunslos nach einer feierlichen Segnungshandlung, die den Beitritt zur Kirche der Erwachsenen bedeutete. Und dann Schleefs Erstling "Tarzan rettet Berlin", in dem Tarzan und Jane auftauchen, Honecker auch, Schimpansen, und zudem tritt Wasser aus dem Westfernsehen. Der Respekt vor Schleefs Lebensleistung verbietet es, noch weiter auf dieses abstruse Stück einzugehen. Die philosophischen Erkenntnisse werden ausgespart, es wäre auch schwierig gewesen, sie angemessen zu transportieren, gerade als Chor. Der wechselt übrigens ständig die Kleidung, aus dem einstigen Kollektiv entspringen Individuen, die die Gender-Grenzen überschreiten. Das entwickelt schon ein gewisse Kraft, zumal es starke Einzelszenen gibt. Eine Hommage für Schleef ist das freilich nicht. Aber er war auch nur ein Mensch.

 

Tarzan rettet Berlin
nach Texten von Einar Schleef, Kim Ley, Maggie Nelson (Übersetzung Jan Wilm), Jayrôme C. Robinet
Inszenierung: Janina Audick, Martina Bosse, Brigitte Cuvelier, Christine Groß; Chorregie: Christine Groß; Choreografie: Brigitte Cuvelier; Bühne / Kostüm: Janina Audick; Dramaturgie: Martina Bosse.
Mit: Meo Wulf, Nathalie Seiß, Marina Prados, Jona Aulepp, Claudio Campo-Garcia, Maikel Drexler, Yasmin El Yassini, Julian Süss, Sanni Est, KAy Garnellen, Kim Ley, Naomi Odhiambo, Jayrôme C. Robinet.
HAU 1 Berlin, Premiere war am 10. Januar 2019, Kritik vom 14. Januar 2019
Dauer: 90 Minuten, keine Pause

 

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