Das Geheimnis der Hexenprozesse

Hexenprozesse sind auch im 21. Jahrhundert nicht selten. In manchen Ländern ist Hexerei ein offizielles Delikt, das in den Strafgesetzbüchern steht und von akademischen Juristen verhandelt wird (mehr dazu im ersten Teil dieser Serie). Quellen über den konkreten Ablauf von Hexenprozessen zu finden, gestaltet sich jedoch als schwierig. Dieser Artikel stützt sich ganz vorwiegend auf Texte aus dem frankophonen Afrika, wohl wissend, dass diese nur kleine Fragmente eines globalen Problems repräsentieren können. Dennoch hoffe ich, dass diese Ausschnitte bei einem oder anderen Aufmerksamkeit und Interesse für das Thema wecken können.

Der Mann in der Flasche

Der zweite Beitrag (ab Sekunde 42) zeigt einen Mann, der durch Zauberei imstande sei, sich auf eine Größe zu verkleinern, dass er in eine Mayonnaiseflasche passe. Es handle sich nicht um einen Fötus, denn der Penis des Mannes sei beschnitten und ein Fötus habe nicht die Form eines fertigen menschlichen Wesens.

Hexerei – ein komplexes Delikt

Der zentrale Vorwurf gegenüber Hexen ist, durch Magie andere Menschen zu schädigen und hieraus ergibt sich das zentrale Problem der Rechtssprechung: "Comment juger, qui est de l'ordre de invisible" formuliert Eric de Rosny1 im Kongressband der 2005 in Yaounde abgehaltenen Tagung "Sorcellerie et Justice": "Wie über etwas urteilen, das der Ordnung des Unsichtbaren unterliegt?"

Der Anthropologe Alban Bensa2 definiert "Hexerei" in seinem Vortrag zur Tagung "Justice et Sorcellerie" als Form der sozialen Übereinstimmung, die einem Anderen indirekte Kräfte über einen selber zuschreibt und er betont, dass dieses soziale Phänomen universell ist.

Doch diese sozialen Übereinstimmungen haben Konsequenzen und schlagen sich in Handlungen nieder, die auch Europäische Gerichte auf den Plan rufen würden. Praktiken der Hexerei sind nicht auf Magie beschränkt. So erzählt Patrick Nguema Ndong3, Redakteur bei Radio Africa n°1 in einem Interview auf Cameroun-online. 

"Il y a par exemple des hommes politiques qui achètent le clitoris des femmes contre une très forte récompense. Ils donnent ce clitoris à un nganga (guérisseur) qui le fait fumer. Lorsqu'une personne politique met ce clitoris fumé dans sa bouche et qu'il se retrouve devant une masse de foule, tout ce qu'il dit, tout le monde applaudit seulement. Mais pendant ce temps, la femme en question vieillit en un temps record et meurt vite."

 

Es gebe zum Beispiel Politiker, die gegen beachtliche Beträge die Klitoris von Frauen kauften. Sie gäben diese Klitoris einem "Heiler", der sie zum Rauchen bringe. Wenn der Politiker die Klitoris dann in den Mund stecke und sich in einem Menschenauflauf wiederfinde, müssten alle sofort applaudieren, egal, was er sage. Die betreffende Frau aber altere in Rekordzeit und sterbe schnell.

Nun können wir den Realitätsgehalt dieser Aussage nicht prüfen. Einerseits muss man berücksichtigen, dass die Angst vor Hexerei zu einem guten Teil auf Legenden und Gerüchten begründet ist. Andererseits wäre es vermessen, diese Geschichte in Ländern, in denen es weibliche Beschneidung gibt, voreilig ins Reich der Gerüchte zu verbannen; im Umfeld der Hexerei sind alle Arten von Gewalttaten dokumentiert, auch Ritualmorde mit dem Ziel, übernatürliche Kräfte zu erlangen:4 "Hexerei" ist in vielen Staaten ein sehr ernstes Problem, das mit kriminellen Handlungen gegen Leib und Leben einhergeht und weit über den Themenkomplex "Magie" und "Aberglaube" hinaus reicht.

Hexenprozesse zwischen Lynchjustiz und offizieller Gerichtsbarkeit

Viele Menschen, die der Hexerei bezichtigt werden, sehen nie ein Gericht: Sie werden einfach gelyncht. So sollen nach Schätzungen der Menschenrechtsorganisation RLEK5 (Rural Litigation and Entitlement Kendra) allein in Indien pro Jahr 200 Menschen wegen Hexerei gelyncht werden. Im Zuge der Cholera-Epidemie, die Haiti nach dem Erdbeben 2010 heimsuchte sollen mindestens zwölf Menschen gelyncht6 worden sein: Sie wurden beschuldigt, die Cholera durch schwarze Magie hervorgerufen zu haben. Bisweilen werden durch Lynchjustiz ganze Menschengruppen auslöscht. Über einen besonders tragischen Fall berichtet Spiegel-TV7:

 

Im Westen Kenias zog ein wütender Mob bestehend aus mehr als 100 jungen Männern mit Namenslisten durch ein Dorf und verbrannte mindestens elf Menschen bei lebendigem Leibe. Ihre Namen waren in einer Schule in einem Buch über Exorzismus aufgetaucht.

 

In Nigeria werden nach Angaben des Austrian Center for Country of Origin & Asylum Research and Dokumentation (ACCORD)4 zunehmend auch Kinder der Hexerei bezichtigt. Diese "Kinderhexen" werden aus ihren Dörfern vertrieben, ausgesetzt, gefoltert und getötet. Folter wird laut ACCORD auch eingesetzt, um Hexen zu Geständnissen zu bringen: Sie würden tagelang verhört, misshandelt, bekämen Drogen und sagten oft in Trancezuständen aus.

Im Video von Spiegel-TV wird das ambivalente Verhältnis der Bevölkerung zur offiziellen Gerichtsbarkeit deutlich: Die Menschen argumentieren, sie müssten das Recht in eigenen Hände nehmen, weil der Staat nichts gegen Hexen unternehme. Umgekehrt wird eine staatliche Rechtssprechung oft als Versuch gewertet, Lynchjustiz zu verhindern.8 Dennoch sind unzählige Fälle dokumentiert, in denen die Staatsgewalt nicht oder nicht entschieden genug gegen Lynchjustiz einschreitet (zum Beispiel von ACCORD)4.

Doch neben der offiziellen Gerichtsbarkeit gibt es den Bereich der traditionellen Rechtssprechung. In vielen Regionen Afrikas ist der Staat schwach. Die Menschen orientieren sich viel mehr an kleinräumigen, traditionellen Strukturen, meist "Fürsten- tümern", die hierarchisch organisiert sind und das Leben der Menschen nach uralten Regeln organisieren. Diese Gemeinschaften verfügen auch über eine eigene Tradtion der Rechtssprechung. 

Der Baobab. Ein Symbol der Weisheit? (Bild: Ulla, pixelio.de)

Ein Nebeneinander von traditionellen und staatlichen Organisationsformen gilt in vielen Regionen als Erfolgsmodell und traditionelle Gerichte haben in manchen Regionen einen offiziellen Status, der ihren Einflussberich definiert (zum Beispiel "Gewaltverbrechen" wie Hexerei ausnimmt). Doch das Verhältnis zwischen traditionellen Strukturen und offiziellen Institutionen ist sensibel und häufig fragil. Viele Menschen vertrauen den traditionellen Gerichten auf dem Land weit mehr als staatlichen Institutionen.

Hexenprozesse im offiziellen Rechtssystem – ein Erbe Europas?

Afrika Letztlich ist die offizielle Rechtssprechung in Afrika ein Kompromiss zwischen dem Erbe der Kolonialmächte und den aktuellen, regionalen Erfordernissen. Die ehemalige Rechtssprechung der Kolonialherren9 hat bis heute ihre Spuren hinterlassen. So führt Eric de Rosny aus, dass in keinem einzigen der anglophonen afrikanischen Länder auch nur eine Andeutung der Hexerei in den Strafgesetzbüchern vorkomme. Für sie gelte der "Witchraft Supression Act" aus dem Jahr 1899, der nicht nur die Hexen verurteile, sondern auch jene, die andere der Hexerei bezichtigen. Hexerei werde in diesen Ländern mehr oder weniger als Angelegenheit der lokalen Autoritäten betrachtet. Ganz anders stelle sich die Lage in den frankoponen Ländern dar: Hexerei komme im in der französischen Gesetzgebung der Kolonialzeit vor und fast alle frankophonen Länder Afrikas, inklusive Madagaskar reproduzierten in ihrer Gesetzgebung mehr oder weniger einen Hexereiparagraphen aus der Kolonialzeit.

Praktiken der Beweisführung

Grundsätzlich gelten für offizielle Gerichts- verhandlungen wegen Hexerei rechtsstaatliche Grundsätze, allen voran, dass ein Angeklagter bis zum Beweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten hat. Die Beweislast liegt bei der Anklage und gefordert werden Beweise jenseits jeden Zweifels.10 Die Crux ist der unumstößliche Beweis der magischen Handlung. Folgende Praktiken werden als wichtige Elemente der Beweisführung beschrieben:

 

Das Geständnis:

Ein Geständnis, so habe Eric de Rosny im Gespräch mit einem Richter erfahren9, sei als Beweis für die Schuld des Beklagten zu werten. Eric de Rosny hegt jedoch erhebliche Zweifel gegen die Beweiskraft der Geständnisse: Es komme vor, so wendet er ein, dass der Hexerei Beschuldigte falsche Schuldeingeständnisse machten, weil sie es vorzögen im Gefängnis zu bleiben, da es für sie schlimmer sei, der aufgebrachten Stimmung im Dorf ausgesetzt zu sein. Immerhin gäbe es Fälle, in denen von Gerichten freigesprochene Personen gelyncht wurden. Oder der Angeklagete überzeuge sich im Verlauf des Prozesses selber davon, dass er ein Hexer sei, der von nichts wisse: Sein Doppelgänger entkomme – gemäß der traditionellen Konzeption des Menschen – in der Nacht seinem sichtbaren Körper, und vollbringe ohne sein Wissen unheilvolle Werke. 

 

Zeugenaussagen:

Zeugen können magische Handlungen beschreiben: Prudence Galega10 zitiert in einem Vortrag auf der internationalen Konferenz "Justice et Sorcellerie" in Yaounde aus einem Fall, der vor einem kamerunischen Gericht verhandelt wurde: Die Bevölkerung berichtete, die mutmaßliche Hexe habe ihre Fingernägel geschnitten und geputzt, mit Reis gemischt und Schulkinder gezwungen, die Mixtur zu essen.

Zeugenaussagen können aber auch das Ergebnis der Hexerei betreffen. Dazu führt Alban Bensa2 aus: Die Frage der Hexerei betrifft die Frage der Ursachenzuschreibung eines individuellen oder kollektiven Unglücks zu böswilligen und heimlichen Kräften eines Anderen. Die Hexerei geht davon aus, dass Menschen einander ohne physischen Kontakt schaden können. Krankheiten, Unfälle, Todesfälle würden für sich genommen als Beweise dieser Kräfte betrachtet.

Als Zeugen können auch Menschen auftreten, die durch magische Kräfte in der Lage sind, Hexen und Zauberer zu erkennen. Béguy Ramadji Angèle berichtet in seinem Aufsatz über Hexenprozesse im Tschad, dass dort die Mehrzahl angeklagten Hexen und Zauberer durch diese "Experten" vor Gericht gebracht würden11. Auch der Amsterdamer Kulturanthropologe Peter Geschiere12 berichtet von seinen Erfahrungen aus Ostkamerun, dass Gerichte gerne bereit seien, mit diesen "Heilern" zu kooperieren, um zu einem Urteil zu gelangen. 

 

Die "intime conviction":

Habibou Bangré schreibt in ihrem kritischen Aritkel über die Strafrechtspraxis der Hexenproszesse in Kamerun13, dass aus Mangel an materiellen Beweisen, häufig die "intime conviction" (etwa: "innerste Überzeugung") des Richters über Verurteilung oder Freispruch entscheide. Ein Schuldspruch lese sich dann folgendermaßen:

"En mon intime conviction, je vous déclare coupable de sorcellerie."

 

("Aufgrund meiner innersten Überzeugung, erkläre ich Sie der Hexerei für schuldig").

Erkennen von Hexerei durch "Gegenzauber"

Wo es Hexerei gibt, gibt es Gegenrituale und "Fachleute", die in der Lage sind, Hexerei zu erkennen und zu neutralisieren, (was ein lukrativer Geschäftszweig sein soll). Da auch diese Menschen über magische Kräfte verfügen, stehen sie immer in Gefahr, selber angeklagt zu werden.9 

Eric de Rosny: Zeuge bei einem Hexenprozess

Erich de Rosny berichtet von einem Hexenprozess, bei dem er als Zeuge aussagen musste: in den 70er Jahren habe er bei einem tradtionellen Heiler namens "Din" die Kunst tradtioneller Heilkunst kennengelernt. Eines Tages habe er erfahren, dass der Heiler als Hexer denunziert und verhaftet worden sei. Er habe sich als Zeuge zur Verfügung gestellt und den Richter von der Unschuld des Heilers überzeugen können:

Durch die Aufzeichnungen, die er gemacht habe, habe er klar zeigen können, dass Din heile und kuriere. Das Gericht habe anerkannt, dass ein Hexer logischerweise keine Werke der Heilung vollbringen könne, was Din entlastet habe. Eric de Rosny zeigt auf, dass diese Argumentation mehr der üblichen Vernunft als einer juristischen Argumentation folgte: Nach der Tradition verliere ein Heiler, der an der Krankheit oder dem Tod einer Person Schuld sei, seine Fähigkeit zu heilen. 

aus: Eric de Rosny: Sorcellerie et Justice en Afrique auf Cairn.info

Quellenverzeichnis

  1. de Rosny, Eric: Analyse des questions posées aux conférenciers: In: Rosny Eric (Hrsg.): Justice et Sorcellerie: Colloque international de Yaoundé, Karthala 2005
  2. Bensa, Alban: La Sorcellerie: Un Imaginaire du Pouvoir. In: Rosny Eric (Hrsg.): Justice et Sorcellerie: Colloque international de Yaoundé, Karthala 2005
  3. Nguema Ndong Patrick: La sorcellerie est culturelle auf Cameroun Online
  4. Austrian Center for Country of Origin & Asylum Research and Dokumentation (ACCORD): Nigeria: Traditionelle Religion, Okkultismus, Hexerei und Geheimgesellschaften
  5. Spiegel.de: Nicht Regierungsorganisation: Inder lynchen jährlich 200 Frauen wegen Hexerei
  6. Süddeutsche.de: Haiti: Cholera-Epidemie löst Hexenjagd aus
  7. Spiegel-TV: Lynchjustiz: Hexenjagd in Kenia
  8. Hexenverfolgung – Wikipedia
  9. de Rosny, Eric: Justice et Sorcellerie en Afrique auf CAIRN.INFO
  10. Galega, Prudence: A perspective of common law Jurisdictions in Cameroon. In: Rosny Eric (Hrsg.): Justice et Sorcellerie: Colloque international de Yaoundé, Karthala 2005
  11. Béguy Ramadji Angèle: Le juge tchadien face à la sorcellerie auf Cefod.org (nicht mehr im Netz)
  12. Gschiere, Peter: Sorcellerie et politique en Afrique, Karthala 1995
  13. Bangré Habibou: Cameroun: la sorcellerie devant la justice auf afrik.com

Mahnmal (Bild: C. Nöhren, pixelio.de)

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