Rudolf - meine russische Seele

Manche Freundschaft ist wie ein Blatt im Wind. Irgendwann ist sie fort geweht.

Und so manches Blatt ist - fast einem Wunder gleich - irgendwann wieder da.

So viele Jahre ist es jetzt her. Trotzdem hat sich jedes Detail meiner ersten Begegnung mit Rudolf komplett  in mein Gedächtnis eingebrannt und ich möchte heute von ihm erzählen. Denn gestern geschah etwas, das eine Hommage an Rudolf verdient.

Der Anfang war nicht unbedingt ideal.

Gerade Mitte zwanzig, hatte ich in spontaner Leidenschaft und vollkommen unvorbereitet mein damaliges Leben als Ehefrau verlassen.

Zufällig war in einem kleinen Zweifamilienhaus eines Nachbarortes eine Wohnung frei geworden und irgendwie überzeugte ich die Vermieterin davon, diese Wohnung mir und meinem Sohn - damals gerade drei Jahre alt  - trotz absoluter Mittellosigkeit und ungewisser Zukunft zu überlassen. Über Nacht hatten wir ein neues Zuhause.

Da stand ich nun: die Behörden brauchten endlose Wochen Zeit, bis Anträge zur damalig genannten "Sozialhilfe" bearbeitet waren. Die Vermieterin war zwar einverstanden, bis dahin zu warten, aber die Wohnung war leer und bis auf ein Reise- Kinderbett und eine Luftmatratze gab es keine Möbel. Das Amt hatte mir zwar eine kleine Starthilfe für die erste Zeit gegeben, die uns gerade so ernähren konnte. Darüber hinaus aber gab es nichts.

Nun war ich damals ein hoffnungslos optimistischer Mensch - und viel zu stolz, um mich mit meinem zukünftigen Exmann auszutauschen oder ihn gar um Hilfe zu bitten. Ich war überzeugt, es irgendwie allein zu schaffen und gab mir dafür sechs Wochen Zeit. Würde ich scheitern, müsste ich mein Kind vorüber gehend in die Obhut der Schwiegereltern geben - eine grauenhafte Vorstellung!

Nun, wie auch immer. Wohnung leer, kein Geld, ein Kleinkind auf dem Arm und ein paar Teile in den berühmten blauen Säcken. Nach fünf Tagen traf ich im hauseigenen Garten auf meinen Mitbewohner aus der ersten Etage - einen scheinbar uralten Veteranen aus Russland. Im gebrochenen Deutsch stellte er sich als Rudolf vor. Ein mittelgroßes Klappergestell mit Knollennase, rot geäderten Augen, schütterem Haar, vielen Falten und einer schier unbezwingbare Neugier."Wo du kommen her?" "Ischt das Dein Sohn? Wie heissen? Wo Mann? Wo Umzugwagen? Noch nicht gesehen?!?"

Oha!

"Ääähm. Das dauert noch mit der Einrichtung, ich warte noch auf Bescheide vom Amt", erklärte ich einigermassen verdutzt.

"Aha.So.So."

Ich floh mit meinem Kind in die Wohnung und schämte mich. Wieso um Himmels Willen erzählte ich einem wildfremden Typen davon? Ganz toll gemacht! Ganz toller Start!

Aber irgendetwas an ihm hatte mich losplappern lassen. Er schien ein väterlicher und verständnisvoller Mansch zu sein - und offenbar brauchte ich das im Moment mehr, als ich je gedacht hätte...

Am selben Nachmittag sah ich aus dem Fenster. Rudolf stand im Garten und spritzte mit einem Gartenschlauch ein undefinierbares und großes Teil ab. Offenbar hatte er es aus seiner Garage geschleppt. Erst beim näheren Hinsehen entpuppte es sich als ein Einbaukühlschrank. Aber was ging mich das schon an? Ich weckte meinen Sohn, zog ihm die Jacke an und machte mich mit ihm auf zur Ortserkundung und Dorfladen.

Als ich zurück kam, stand Rudolf noch immer vor der Garage und begutachtete zufrieden seinen Kühlschrank. Er winkte mich zu sich: "Habe ihn geputzt. Ischt ganz sauber jetzt. Wir tragen ihn jetzt hoch zu dir!" Verdattert fragte ich: "Für mich? Aber wie...warum...das geht doch nicht! Das kann ich nicht annehmen!" "Doch! Du brauchen. Du haben kleines Kind! Und Amt dauert laaange. Ich kennen. Alles Verbrecherrr! Da!"

Es folgten noch ein Kleiderschrank, eine Matratze, ein Zweiplattenherd und Töpfe aus der Garage. Ich wusste weder ein noch aus. Es war schier überwältigend. Und abends klopfte es laut an meiner Tür. Ich öffnete und fand einen großen Karton vor - gefüllt mit Wolldecken, Geschirr und einer Kaffeemaschine. Rudolf aber hatte sich schon davon gemacht.

In den nächsten Tagen kam er immer wieder zu uns hoch und lud zum Essen und Kaffee ein - nein, vielmehr befahl er es. Widerspruch zwecklos.

So begann unsere Freundschaft. Ein paar Wochen später konnte ich mich wenigstens ein ganz klein wenig revanchieren. Es war schon spät, fast Mitternacht, als ich im Hausflur einen ungewohnten Lärm hörte. Laute Männerstimmen, Gepolter, Geschrei. Ich öffnete die Tür und ging die Treppe hinunter. Und da bot sich mir ein groteskes Bild: Rudolf krallte sich mit wild entschlossenem, störrischem Gesicht, aber konzentriert schweigend am morschen Treppengeländer fest, das bedenklich laut knackte. An Rudolf wiederum krallten sich zwei Polizeibeamte, die vor sich hin ächzten und laut fluchend alles versuchten, um ihn loszueisen. "Jetzt lassen Sie schon los, verdammt noch mal" "Nein!" "Wir nehmen Sie jetzt mit auf's Revier!" "Nein!" "Doch!" "Nein! Alleees Verbrecherrrr!!!" Ich bemerkte, dass Rudolf offensichtlich betrunken war. Und dann krachte das Geländer....Das löste meine Erstarrung und ich lief zu ihnen. "Was machen Sie da? Lassen Sie ihn gefälligst los! Sie machen ja alles kaputt!" Verdutzte grün-weisse Blicke. "Kennen Sie diesen Mann?" "Ja, natürlich! Das ist mein Nachbar!" "Dann wohnt er hier also doch...". "Ja!"  "Oh. Ja, dann..."

Was war passiert? Rudolf war in einer Kneipe gelandet und hatte sich geweigert, den Deckel zu bezahlen. Seiner Meinung nach hatte der Wirt ihn betrügen wollen (man ahnt es schon:"Allesch Verbrrecherr!). Es kam zu Streit, die Polizei wurde geholt und die beschloss, ihn nach Hause zu bringen (man muss dazu wissen: Rudolf ist nicht nur unglaublich stark, sondern auch laut, wenn er aufgeregt ist). Da Rudolf seinen Ausweis zuhause vergessen hatte und obendrein seinen Wohnungsschlüssel nicht finden konnte, glaubten die Polizisten, er würde nicht in diesem Haus wohnen und wollten ihn sozusagen einkassieren, bis die Personalien geklärt waren. Jetzt trollten sie sich. Ich schleppte Rudolf in meine Wohnung, flößte ihm stark konzentrierten Kaffee ein und suchte nach seinem Schlüssel, den ich dann auch aufgrund eines verräterischen Geräusches im linken Schuh (!) fand.

Wir beide wurden ein Herz und eine Seele. Er wurde zu meinem Vater, ich zu seiner Tochter, mein Sohn zu seinem Enkel.

Uralt war Rudolf übrigens nicht - er stand kurz vor der Rente. Allerdings hatte ihm sein Schicksal sehr zugesetzt. Vor wenigen Jahren war seine Frau gestorben. Seine Familie mied ihn, weil er seit damals fast täglich betrunken war. Nur seine jüngste Tochter, ein Teenager von siebzehn Jahren, lebte noch bei ihm, war aber selten daheim. Heute denke ich, sie war es, die Rudolf trotz aller Widrigkeiten seine Pflichten peinlich genau erfüllen liess. Nie war er zu spät dran. Nie hörte er vorzeitig mit einer Arbeit auf. Und nie vergass er eine Abmachung.

Inzwischen fand ich einen Job in einer Fabrik und eine Tagesmutter für meinen Jungen.

Wenn wir morgens zur Arbeit mussten - beide in Frühschichten -, warteten Rudolf und ich gemeinsam auf den ersten Bus um fünf. Wenn ich geschafft nach Hause kam, weil ich nach dem Job noch meinen Sohn von der Tagesmutter abholen musste und selten vor 17 Uhr da war, öffnete Rudolf stets die Tür und kochte mir einen Kaffee. Beides wurde zum unverzichtbaren Ritual.

Ich erledigte für ihn sämtliche anfallende bürokratische Korrespondenz mit Behörden, Ämtern und anderen (aaaalles Verrbrecherr!)  Institutionen und begleitete ihn zu persönlichen Gesprächen und Arztbesuchen (was willscht von mir, Doktor?! Verständnisloser Blick zu mir. "Was will der denn nu?!!"). Selbstverständlich putzte er sich für jeden Termin extra heraus: einen längst zu klein gewordenen schwarzen Anzug mit viel zu kurzer Hose, weißes Hemd, weiße Tennissocken und Schnürschuhe. Meine Bemühungen, ihn zu anderen Klamotten zu verhelfen, scheiterten: "Anzug noch von Beerdigung meiner Tante! War teuer! Brauch' doch nischt anderes!"

In den nächsten Jahren sollte noch viel passieren. Aber eins wurde schon sehr schnell deutlich: von Rudolf kann man eine Menge lernen. Und: Rudolf ist ein besonderer Mensch, der nur zu oft unfreiwillig eine Situationskomik schafft, die nicht zu überbieten ist.

Zum Beispiel eine besondere Autofahrt: eine Cassette mit russischen Liedern läuft. Rudolf am Steuer dreht plötzlich laut auf. Eine schluchzende Ballade. "Horch! Mann hat gemordet! Polizei kommt! Da!! Frau hat betrogen. Anderer Mann weg. Frau im Bett, lachen...lachen ihn aus! So sind die Frauen!" Frustriert schlägt Rudolf auf das Lenkrad. Der Wagen macht einen Schlenker, mein Magen auch. Die Musik schwillt an, die Geigen werden lauter und lauter. Pause. "Da! Horch! Er sticht zu!! (Klavier) Wieder! (dramatisches Klavier) Und wieder! (Hochdramatisches Klavier, wilde Geigenstürme, ein Horn).Frau nicht mehr schreien, tot, da, tot im Bett!!! Blut üüüberall!" Befriedigtes Seufzen. "Sie jetscht nicht mehr lachen, ja,ja...so kann's gehen." Klavier und Geigen - diesmal harmonisch im Einklang. "Mann wird sterben am Galgen...aber egal! Frau bestraft. Herschz gebrochen. Uuund fertig!"

Unvergessen auch mein Anruf bei ihm, als ich im Urlaub war...

Im Hintergrund ein Geräusch, dass ich nicht wirklich einordnen kann. "Was ist das für ein Geräusch, Rudolf?" "Taubn." "Was?" "TAU-BEN!" "Bei dir in der Wohnung?" "Hmmm...in Küche. Zwanzig Stuck. Von meinem Schwager." "Ach, Quatsch. Was soll das? Willst du mich auf den Arm nehmen?" "Neeein. Horch doch!" Rudolf hält offensichtlich empört den Hörer in den Raum, ich höre tatsächlich ein lautes Gurren. "Hast horcht? Ich lüg nicht!" "Ja.... aber was machst du denn damit?" "Kochen." "Waaas?" "Sind Delikatesse, weischt nicht? Wenn kommscht, koche ich Taubensuppe! Wie in Russland! Oh, da fliegen sie aus dem Karton!!! Musch fangen! Tüß!"

Mein Favorit, wenn auch etwas makaber: eine liebe Freundin von uns pflegte ihren Mann zuhause, bis er starb - umringt von seiner Familie und den engsten Freunden. Das Beerdigungsinstitut wurde informiert und in den letzten Minuten bis zum Eintreffen der Bestatter sah unsere Freundin auf und sagte in die allgemeine Stille hinein: "Jetzt kommen sie schon und holen ihn ab. Das ist mir viel zu früh....". Alle sahen sie schweigend und mitfühlend an. Rudolf hingegen überlegte und sagte dann ganz ruhig und praktisch: "Offener Kuhlschrank am Bett aufstellen. Hält ihn frisch und er kann bleiben, so lange du willscht. In Russland oft so machen!"

Das hatte eine Schnappatmung der Mutter und Fassungslosigkeit beim Bruder des soeben Verstorbenen zur Folge. Unsere Freundin sah ihn gefasst an und sagte: "Danke, Rudolf. Lieber nicht."

Eins war klar: Rudolf meinte es - im wahrsten Sinne des Wortes - todernst und wollte tatkräftig helfen. Wie immer.

Mit besonderem Interesse verfolgt er die Nachrichten und kommentiert alles - erst recht, wenn er allein ist. Als der Euro kam, sah Rudolf misstrauisch auf die neuen Münzen und sagte: "Das ischt kein gutes Geld." Er prophezeite schon vor fünf Jahren eine Wirtschaftskrise. Und hatte recht.

Ich - wie auch andere aus unserem Freundeskreis - haben eine eigenartige Beziehung zu Rudolf: er ist und meint alles sehr ernst. Wir hingegen sind oft belustigt und lachen über diese rudolf-typischen Situationen (was ihn oft verständnislos nachfragen lässt) - aber gleichzeitig erfüllt uns eine ungeheure Achtung vor ihm. Er hat einen unglaublich starken Willen und erreicht fast immer sein Ziel.

Als ich ihn kennen lernte, galt er allgemein als jahrelanger Alkoholiker und hatte längst seinen Führerschein verloren.

Irgendwann verliebte er sich in ein Auto. Er wollte unbedingt ein solches Modell haben und fahren. Prospekte lagen auf den Tischen, Finanzierungsangebote von Banken, Adressen der Autohäuser, Preisvergleiche.  Eines Tages schüttete er seine Schnapsflaschen aus und schmiss sie weg, besuchte die Fahrschule und lernte ein paar Wochen lang eisern bis zur Prüfung, die er prompt bestand. Noch am gleichen Tag holte er seinen Neuwagen ab.

Er hat seitdem nie wieder getrunken. So einfach war das für Rudolf.

Wenn ich Kollegen, die sich mit Alkoholikern befassen, davon erzählt habe, meinte so mancher, Rudolf sei kein "echter Alkoholiker" gewesen. Aber das stimmt nicht. Nicht nur, dass er jeden Abend trank, auch hatten sich längst seine Kinder und die meisten Familienangehörigen - eben wegen seiner jahrelangen Sucht - von ihm verabschiedet. Er blieb lediglich einige Tage für sich, nachdem er die Flaschen entleert hatte. Mehr war von seinem Entzug nicht zu bemerken.

Wann immer etwas repariert werden musste, war Rudolf erste Wahl. Als ich meinen Sohn und mich zur Jahrtausendwende ausgeschlossen hatte, haben wir in Rudolfs Wohnung geschlafen, während er verreist war. Als unser Kaninchen schweren Durchfall bekam und es sich quälte, war Rudolf derjenige, der es erlöste. Rudolf war bei kleinen und schweren Tragödien immer zur Stelle - wahlweise mit einer Tasse heißen Kakao oder einer Wolldecke, die er mir fürsorglich über die Schultern legte. Oder mit beidem.

Rudolf war einer der ersten, die meinen jetzigen Mann kennen lernten. Und befand ihn - im Gegensatz zu anderen - für gut genug. Irrtum ausgeschlossen. Und wieder hatte Rudolf Recht.

Er war es auch, der uns im ersten Jahr begleitete, als wir berufsbedingt nach Rumänien umsiedelten. Dort war er in seinem Element, baute am Haus mit, leitete die anderen Arbeiter an, verstand sich prächtigst mit den Nachbarn, obwohl keiner die Sprache des anderen kannte. Er wählte die Schweine auf dem Markt aus, um sie eigenhändig zu schlachten - nachdem ich mit den Kids fluchtartig den Hof verlassen hatte. Nicht selten fanden wir dann einen Schweinekopf auf dem Tisch vor, weil er daraus was essbares für sich zubereiten wollte - für ihn eine typische Delikatesse eben.

Eines Tages nahmen wir Abschied voneinander. Er fuhr heim, ich blieb mit Kind und Mann in Rumänien. Natürlich schworen wir uns, den Kontakt zu halten. Und natürlich ging es schief. Der Ostblock schluckte uns mit Haut und Haar. Sehr selten kamen wir nach Deutschland und sahen Rudolf wieder.

Wir telefonierten manchmal, besuchten ihn  vielleicht einmal im Jahr. Und das hatte seinen Grund: meine unglaubliche Sehnsucht nach meinen Freunden und meinem gewohnten Zuhause.

Das fremde Land war und blieb in den Jahren für mich unerträglich. Trotzdem gab es keine Wahl - der Job meines Mannes war zu wichtig. Hätte ich  den engen Kontakt zu "meinem" Rudolf aufrecht erhalten, wäre es kein Trost gewesen. Statt dessen hätte es mir den Rest gegeben und es wäre früher oder später zur Trennung von meinem Mann gekommen.

Aber meine Familie ging vor. Und so versuchte ich, alle früheren Kontakte einzudämmen, weil es mich zu oft in tiefe depressive Phasen stürzte. Irgendwann ging Rudolf nicht mehr ans Telefon. Briefe kamen zurück. Freunde berichteten, er wohne nicht mehr in seiner alten Wohnung.

Inzwischen waren wir nach über drei Jahren wieder in Deutschland, aber in einer fremden und weit entfernten Stadt. Mühsam lebten wir uns in den nächsten zwei Jahren in die nächste neue Umgebung ein. Die alten Kontakte wurden zum Teil wieder hergestellt. Aber Rudolf blieb verschollen.

Mein Mann fand die alte Telefonnummer von Rudolfs früherer Lebensgefährtin, die er kurz vor unserem Umzug kennen gelernt hatte. Aber ich hatte zuviel Angst, ihn anzurufen. Er hatte längst ein neues Leben. Wahrscheinlich hatte er uns schon abgeschrieben, war zu Recht verärgert und wollte mich nicht mehr sehen. Nach mittlerweile vier Jahren ohne jeglichen Kontakt wäre es ihm nicht zu verübeln. Unsere wunderbaren Erinnerungen, die nicht so einen Abschluss erfahren durften, wären in Gefahr und getrübt gewesen. Belassen wir es besser dabei.

So dachte ich bis gestern.

In Kürze werden wir alle unsere alten Freunde besuchen.

Und Rudolf wieder sehen.

Mein Mann beschloss gestern spontan, nun doch diese alte Nummer zu wählen, um zu erfahren, was mit Rudolf geschehen ist.

Fürchterliche Angst packte mich - was ist, wenn er längst verstorben ist? Nicht auszudenken...!

Aber dann... mit einem dicken Kloß im Hals und Flattern im Bauch nahm ich später den Hörer von meinem Mann entgegen und hörte nach über vier Jahren Rudolfs Stimme wieder.

Rudolf hat eine gewisse Eigenschaft: er kann Jahre wegwischen.

Es ist so, als wären nicht Jahre, sondern höchstens ein paar Wochen vergangen. Wir fielen schnell in unseren alten Plauderton zurück - abgesehen von seinen Anmerkungen wie "meine alten Freunde haben misch nicht vergessen! Wie schön! Jeden Tag habe ich an euch gedacht! Jeden Tag!" Schockierend waren die Ereignisse, von denen er berichtete. Er war wegen einer Lungenerkrankung vor zwei Jahren ins Koma gefallen.

Die Ärzte hatten ihn aufgegeben, seine Familie bereits die Bestattung vorbereitet, einen Anzug für ihn gekauft, in dem er beerdigt werden sollte und seinen gesamten Hausstand aufgelöst...aber dann geschah ein Wunder: er erwachte und erholte sich. Heute kann er fast wieder selbstständig in einer eigenen Wohnung leben, nennt seinen Rollator einen Mercedes und pflegt seine Hühner, die er neulich angeschafft hat.

"Jetscht musch ich nur noch die Musik abstelllen!", sagt er. "Welche Musik?", frage ich. "Horch!"  Er hält den Hörer an seine Brust. Und dann höre ich ihn atmen, ein bisschen rasselnd, ein bisschen eingeschränkt.

Und ich höre es klopfen, sein starkes Herz. Diese Musik darf nie enden, denke ich. Denn da bin ich zuhause.

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