Idylle oder Albtraum? Vom Leben auf dem Land
Leben auf dem Land kann schön sein, man kann nachts das Auto offen lassen und mit den Dorfbewohnern intensiv kommunizieren. Doch es ist nicht jedermanns Sache.Die ureigenen Reize des Dorflebens - Man verliert Intimsphäre, gewinnt aber Nachbarschaftshilfe
Hipsters leben natürlich heute in einer angesagten Hauptstadt. Urbanes Leben im Penthouse inmitten der Fußgängerzone mit dem Fünf-Minuten-Fußweg zum Stadttheater hat fraglos seinen Reiz - aber spätestens mit Kindern werden viele zu Stadtflüchtlingen. Allerdings erfordert der Weg zum Status eines Dörflers nicht nur eine Ortsveränderung. Es kommt, wie ich inzwischen nach Proben des Dorflebens in Mitte, im Norden und Süden Europas weiß, vor allem auf die innere Einstellung an.
Man muss es nämlich schon mögen, dass alle 200 Dorfseelen mitleiden, wenn man wegen eines Nebenhöhlendefekts zur Arzt-Sprechstunde in die Kreisstadt muss. Oder dass man nach dem Öffnen unserer Fensterläden am frühen Morgen eine Schamfrist von genau sieben Minuten verstreichen läßt, um bei uns zu klingeln und das vom Postboten für uns abgegebene Paket zu überreichen. Oder dass am Morgen nach einem Essen mit Freunden bei uns der Satz fällt: "Ihre Gäste haben aber gestern Abend lange durchgehalten!" Man muss dann immer viel Zeit mitbringen, um dann auf die Fragen zu antworten, wer denn zu Besuch war (mit allen Titeln) und wer welches Auto fuhr.
Natürliche Neugier muss man aushalten können
Doch Auto-Türen schlagende Gäste um drei Uhr morgens machen wir wett mit einer bereitwilligen Befriedigung der natürlichen dörflichen Neugier und durch einen nicht unerheblichen Unterhaltungswert unsererseits: Sei es durch den Transport einer Doppelbadewanne durch enge Türen, vom ganzen Dorf im Spalier mit fachmännischem Rat begleitet oder durch meinen erst kürzlich erfolgten Sturz vom Pferd beim Galopp über die vor dem Dorf abgemähten Wiesen.
Spätestens bei solch letzterem Vorkommnis lernt man die dörfliche Nachbarschaftshilfe schätzen: Während mein Mann die panischen Pferde einfing, brachte mich der Nachbar von gegenüber zum Arzt. Wir revanchierten uns dafür, indem wir neulich tatkräftig mitanzogen, um eine planschende Milchkuh aus ihrem Swimmingpool (ja, sowas hat die moderne Bauernfamilie heute!) zu hieven: Milva hatte sich offenbar im Stall geirrt und war in Panik geraten. Das alles um halb sechs Uhr früh.
Nachbarschaftshilfe in allen Lagen
Keiner unserer Besucher braucht eine komplizierte Wegbeschreibung zu unserem Haus, denn schon am Dorfeingang kann jeder X-Beliebige über unser Wohnhaus Auskunft geben und ob wir überhaupt zuhause sind! Ich kann auch bei unsteter Wetterlage beruhigt meine Wäsche zum Trocknen draußen aufhängen und in die Stadt fahren: Sollte es inzwischen einen Regenschauer gegeben haben, so finde ich bei meiner Rückkehr Bett- und Handtücher im Wäschekorb durch die Nachbarin sorgfältigst gefaltet vor meiner Haustür vor. Oder sollten Grünberockte mit solch unschönen Schwarz-weiß-Porträts von mir wegen Geschwindigkeitsübertretungen auftauchen und bei den Nachbarn um Identifikation bitten, so erkennt mich natürlich keiner auf dem Bild, darauf kann ich mich verlassen.
Habe ich zum Beispiel Lust auf einen Kaffee, so brauche ich meinen Kopf zufällig so gegen vier Uhr nur vom PC hoch- und zur Terrasse heraus zu strecken, schon ruft die Nachbarin von gegenüber, ob ich denn Lust auf eine Tasse mit ihr hätte. Habe ich natürlich. Ich kann die Einladung nebenbei zu von mir gesteuerten Aufklärungs- und PR-Maßnahmen nutzen, zum Beispiel dass man mit besagter Doppelbadewanne nur eineinhalbmal so viel Wasser braucht wie bei zwei Bädern hintereinander.
Noch habe ich es aber nicht übers Herz gebracht, der Nachbarin linkerseits zu gestehen, daß mir schon beim Anblick von fetten Reibekuchen schlecht wird, die sie mir 14tägig immer donnerstags zukommen läßt. Und manchmal regt es mich schon auf, daß ich nicht unbeachtet fluchend selbst versuchen kann, den Gartenschlauch an den Wasserhahn zu stöpseln, ohne daß gleich der Nachbar von gegenüber und der von links über die Dorfstraße geschossen kommen, um mir den richtigen Dreh zu zeigen.
Das Vorurteil von der Ruhe auf dem Land
Wer die Stadt flieht, weil sie ihm zu laut ist wegen des Verkehrslärms, der sollte erst mal probewohnen auf dem Dorf! Haben Sie schon mal die Riesenerntemaschinen im August über eine schmale Dorfstraße donnern hören? Und das bis weit nach Mitternacht, weil am nächsten Tag Regen angesagt ist? Wissen Sie, wie laut selbst die Natur sein kann? Ich rede jetzt nicht von den mindestens 200 Fröschen, die wir mit unserem Natur-Schwimmteich anlockten. Mein Mann nennt es noch lachend "Konzert", was die im Frühjahr auf Partnersuche veranstalten, aber er hört aber auf einem Ohr schlecht! Auf dem Land hat natürlich jeder mindestens zwei bis 14 Hunde. Wenn da einer zum Bellen anfängt und die anderen alle ausnahmslos antworten – na, da ist was geboten! Dann gibt es da noch den Dorf-Stammkuckuck mit seinen nur zwei Tönen. Noch schlimmer der Uhu, der irgendwo in den Bäumen sitzt und ich dann senkrecht im Bett! Dieser eine dumpfe, durchdringende Ton dieses Vogels ist Folter! Neulich hatte ich genug, stob, ohne mir noch voher ein Nachthemd überzuwerfen, in die Finsternis hinaus und warf einen Stein in seine Richtung - naturgeschütztes Exemplar hin oder her. Jetzt uhut er beim Nachbarn wenigstens etwas weiter entfernt. Hoffentlich hat mich keiner gesehen.
Schützenverein oder freiwillige Feuerwehr?
Wie sehr wir aber dem dörflichen Leben verfallen sind, wurde mir klar, als eines Sonntagsmorgens so gegen neun Uhr, als wir uns gerade noch einmal wohlig zusammenkuschelten, wir durch stürmisches Klingeln unterbrochen wurden. Fluchend schlüpfte ich in den Bademantel und öffnete die Tür. Der Bauer von nebenan war ganz zerknirscht: "Ich dachte mir schon, daß das nicht so recht passt, weil die Vorhänge noch zu waren!" Ich bemühte mich, ihn seine Verlegenheit überwinden zu helfen, da tauchte endlich Göttergatte im Bademantel auf und rettete die Situation, indem er einen Obstschnaps anbot. Als guter Gastgeber setzte er sich dazu und kippte auch einen mit. Das Ende vom Lied: Nach etlichen Pflichtschnäpsen für Gast und Gastgeber unterschrieb er die Beitrittserklärung zur Ortsfeuerwehr. Das hat vor allem den Vorteil, so erklärte uns der Bauer, daß man bei Feuer im Haus die in der Dorfkneipe versammelten Feuerwehrkollegen anrufen kann, damit sie nicht zu früh zum Löschen kommen und damit einen nicht versicherten Wasserschaden anrichteten.
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Die 7 wichtigsten Dinge im Leben)