Ganz nah dran

Wir sitzen mit Ben und Holle im Polizeiauto auf dem Weg zum Einsatzort und spüren hautnah ihre Aufregung. In dieses Auto werden wir zu Beginn eines jeden der drei Teile des Buches zurückkehren, aber was es mit dem flackernden Feuerschein, der sich hinter einer Straßenbiegung bereits erahnen lässt, wirklich auf sich hat, erfahren wir erst am Schluss.

Dazwischen liegt die Geschichte von Sophia Schönberger und ihren beiden Kindern Jackie und Timmy. Jackie ist 18, aber auf der geistigen Stufe einer Vierjährigen. Das macht sie zum idealen Opfer für eine Gang von Jugendlichen und Kindern aus der Nachbarschaft, die die Familie täglich und vor allem nächtlich terrorisiert.

Opfer und Täter kommen zu Wort

Der Autor enthält sich jeden persönlichen Kommentars und lässt die Personen und Geschehnisse für sich sprechen. Er schlüpft in die Rolle fast aller beteiligten Personen. Er lässt Sophia Schönberger zu Wort kommen, ihren Sohn Timmy, die Sozialarbeiterin Gertrud Steiner, den Polizisten Ben Hartmann und auch – und das besonders eindrucksvoll – den Anführer der Jugendgang und ein paar seiner Kumpane. Er zitiert Sophias Briefe an einen Abgeordneten und dessen Reaktion darauf. Obwohl sich ein haarsträubender Vorfall an den nächsten reiht, versucht niemand ernsthaft einzuschreiten. Der Mobbing-Terror nimmt seinen Lauf, eskaliert immer stärker und kulminiert in einer Katastrophe.

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Der Kirschblütenweg ist überall

Unglaublich oder übertrieben erscheint dieser Ablauf der Ereignisse nur Lesern, die noch nie etwas Vergleichbares erlebt haben. Die Geschehnisse, die dem Roman zugrunde liegen, spielten sich zwar in England ab, aber das Gleiche hätte ebenso gut bei uns in Deutschland passieren können. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man bei der Polizei im Fall von Nachbarschaftsstreitigkeiten oder -beschwerden grundsätzlich erst einmal abgewimmelt wird. Ohne sich für den konkreten Fall zu interessieren, unterstellen sie einem dort, man übertreibe oder sei nicht tolerant genug, und drängen auf gütliche Einigung. Dass es mit kriminellen Terrorbanden keine gütliche Einigung geben kann, wird dabei geflissentlich übersehen.

Im Kirschblütenweg bringt die psychischen Mechanismen, die dem Phänomen Mobbing zugrunde liegen, sehr gut zum Ausdruck, sowohl bei den unmittelbar Beteiligten als auch bei den Zuschauern. Allerdings ist der dargestellte Fall so krass und bis zum bitteren Ende durchgespielt, dass der Leser Gefahr läuft, ihn für eine Ausnahme oder etwas Einmaliges zu halten. Aber Mobbing beginnt oft ganz harmlos. Niemand will es wahrhaben, alle wiegeln ab, und plötzlich ist aus dem dünnen Rinnsal ein reißender Strom geworden, den keiner mehr aufhalten kann.

Lesegenuss mit Abstrichen

Was die literarischen Qualitäten des Romans angeht, so fällt das Urteil gemischt aus. Die Dramaturgie ist klasse, die Personen sind sehr gut getroffen. Aber die Ich-Form im Präsens, die hier vorherrscht, führt an so manche Klippe, die der Autor nicht immer sicher umschifft. Einen Satz wie "Ein Lächeln umspielt meine Lippen" kann man eigentlich nicht schreiben, denn das ist eine Außenperspektive: Das Umspielen der Lippen kann der Lächelnde selbst nicht sehen. Derlei Unmöglichkeiten gibt es leider viele in dem Buch. Allerdings ist diese Ich-Manie mit ihren weniger schönen Auswüchsen derzeit so in Mode, dass vielen Lesern daran gar nichts Merkwürdiges auffallen wird. Wer also über logische Widersprüche hinweglesen kann, wird begeistert sein.

Gewalt (Bild: sokaeiko / pixelio.de)

Federspiel, am 23.06.2013
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Bildquelle:
Sicher und Stark (Die Sicher-Stark-Initiative leistet wichtige Prävention gegen Mobbing)

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