Vorwort - Wie sehen geburtsblinde Menschen?

Bevor wir uns auf die Träume konzentrieren, sollten wir uns die Frage stellen: Wie sehen geburtsblinde Menschen? Als Sehende überlegen wir uns oft, was blinde Menschen sehen. Sehen sie einfach schwarz? Ein schwarzes Loch? Ein schwarzes Feld? Oder sehen sie weiß? Oder grau? Nun ja, ein geburtsblinder Mensch kann diese Frage nicht beantworten, denn er oder sie weiß nicht, was ist schwarz, weiß oder grau? In meiner Arbeit mit blinden Menschen habe ich mich natürlich schon mit vielen Blinden unterhalten, über das Thema was sie sehen und natürlich auch darüber, was oder wie sie träumen. Zum Thema WIE sehen Blinde überhaupt, um Ihnen deutlich zu machen, WIE oder WAS sie sehen, stelle ich Ihnen eine Frage: Was sehen Sie durch ihr Ohr? Überlegen Sie etwas.... Was Sie durch ihr Ohr sehen, sieht ein Blinder durch die Augen. Also, gar nichts, zumindest nicht, wenn er komplett blind ist. Die Antwort dazu lieferte mir ein ehemaliger Lehrer in meiner Ausbildung, der durch eine Augenerkrankung nach und nach erblindet ist. Sein Sehfeld wurde langsam immer kleiner, bis nur mehr ein kleiner Punkt, ein kleiner Tunnel, der Tunnelblick, da war, durch den er noch etwas erkennen konnte. Dort, wo das Sehen rundherum bereits versagt hatte, sah er weder schwarz, noch weiß, noch grau, sondern es war einfach nichts da, keine Sehfunktion. Er sah dort so viel, wie wir aus den Ohren sehen können. Die verschiedenen Augenkrankheiten und Arten der Erblindung wirken sich natürlich unterschiedlich aus. Oft haben Blinde noch eine gewisse Hell- und Dunkelwahrnehmung, kleine Punkte, durch die sie vielleicht noch Umrisse oder gar Farben erkennen können, aber, was rundherum ist, ist gleich: Es ist keine Farbe, sondern es ist einfach nicht vorhanden.

Mapenzi, 7, geburtsblind (Bild: Barbara Lechner-Chileshe)

Wie träumen Blinde nun?

Jeder Mensch träumt. Wir brauchen Träume, um Erlebnisse aufzuarbeiten, zu festigen, ja sogar, um zu lernen. Auch, wenn wir uns nicht immer an unsere Träume erinnern können, heißt dies nicht, dass wir nicht geträumt haben, denn unser subjektives Erleben kann nicht abgeschaltet werden. Es läuft immer weiter, ob Tag oder Nacht. Oft träumen wir etwas erneut, was wir bereits erlebt haben, oft ist es etwas, was uns beschäftigt, weil es bevor steht, manchmal haben wir auch Träume, die uns Angst machen. Träume sind oft so realistisch, dass wir glauben, wir hätten das Ganze wirklich erlebt.

So haben wir bereits unsere Antwort. Jeder Mensch träumt, also auch ein blinder Mensch. Auch ein Blinder träumt von Dingen, die er erlebt hat, Dingen, die ihm beschäftigen oder auch Dingen, die ihm Angst machen. Auch seine Träume sind realistisch, also kann er auch im Traum nicht sehen, dafür bleiben in der Früh oft andere Sinneseindrücke, die an den Traum erinnern, sei es ein Geruch, etwas Gehörtes, etwas Ertastetes oder etwas Erschmecktes. Auch die bösen Träume unterscheiden sich nicht wirklich. Albträume haben wir über Dinge, die uns Angst machen. Naheliegender Weise geben Blinde oft an, sich in ihren Albträumen zu verirren, böse zu stolpern, wo eingesperrt zu sein oder gar irgendwo hinein zu fallen. 

Menschen, die später erblindet sind, geben meist an, in der ersten Zeit noch Bilder im Traum zu sehen, was aber im Laufe der Erblindung langsam erblasst. Daraus entsteht die Vermutung, dass sich das Gehirn nach einer Zeit an die Alltagssituationen anpasst, sonst wären Träume auch weniger realistisch. Ähnlich geht es Menschen, die auswandern in ein Land, in der nicht die Muttersprache gesprochen wird. Nicht selten träumen sie dann in der Sprache des Landes, in dem sie sich befinden, vorausgesetzt, sie nützen ihre Muttersprache im Alltag nicht mehr wirklich.

Tatsache ist, Träume von Blinden sind genau so erfüllt von verschiedensten Sinneseindrücken, wie die von Sehenden, nur die Sinnesreize des Sehens fehlen, oder doch nicht? Wenige Untersuchungen von Schlaflaboren zeigen das Gegenteil....

Untersuchungen mit blinden Kindern im Schlafmedizinischen Zentrum in München

Es gibt nur sehr wenige wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema "Blind und Traum". Wie schon erklärt, geben Blinde eigentlich immer an, in ihren Träumen nicht sehen zu können, doch Untersuchungen im Schlaflabor in München ergaben andere Ergebnisse. Sie führten Experimente mit geburtsblinden Kindern durch, die sie direkt in der REM-Phase, in der wir uns normaler Weise am Besten an unsere Träume erinnern können, aufweckten. Erstaunlicher Weise konnten einige der Kinder kurz nach dem Aufwachen mit Bleistift verschiedene Formen auf Papier bringen, die sie aus ihren Träumen mitgenommen hatten. Die Formen zeigten, wenn auch ungelenk, deutliche Figuren und Gegenstände. Auch die Ergebnisse der EEG-Aufnahmen waren erstaunlich, denn sie zeigten eine gewisse Aktivität in der visuellen Rinde des Gehirns. Das würde bedeuten, dass blinde Menschen untertags genug Sinneseindrücke sammeln, um sich im Traum ein gewisses Bild zusammen zu basteln. Auch verschiedene Farben sollen in den Träumen vorkommen, jedoch haben diese vermutlich mit unserem bekannten Farbspektrum wenig zu tun und geburtsblinde Menschen könnten diese auch nicht klassifizieren, nachdem sie ja nicht wissen, wie "unsere" Farben aussehen.

Fest steht, solche Untersuchungen sind schwierig, denn, da geburtsblinde Menschen keine Vergleichsmöglichkeiten haben, können sie selbst nicht wirklich erklären, ob sie in ihrem Traum Bilder gesehen haben oder nicht. Und für einen sehenden Wissenschaftler ist es nicht möglich, in das Gehirn eines Geburtsblinden hinein zu krabbeln, um dies 100%ig zu erforschen und mit eigenen Augen zu sehen, was der Blinde sieht.

Bilder im Kopf

Ich bin schon der Meinung, dass Blinde gewisse Bilder im Kopf haben, wobei ich mir nicht sicher bin, ob "Bild" der richtige Ausdruck ist, aber nennen wir es einmal so. Nehmen wir einen kleinen Gegenstand, zum Beispiel einen Bleistift. Einen Bleistift kann ein Blinder komplett "begreifen". Er kennt die Form, riecht das Blei, hat vielleicht schon mal darauf herum gebissen und weiß, dass er nicht gut schmeckt. Somit hat er doch schon ein gewisses "Bild" von einem Bleistift im Gehirn abgespeichert. Die Sinneneindrücke, die er hat, wenn er den Bleistift untersucht, ergeben das "Bild Bleistift". Schwieriger ist das natürlich bei größeren Gegenständen, die ein Blinder unmöglich von allen Seiten komplett "begreifen" kann. Oder überhaupt Dinge, die nicht "begreifbar" sind, wie die Sonne oder der Himmel. Ich denke, dass sich Blinde von solchen Dingen auch ein gewisses "Bild" im Kopf machen. Lesen Sie doch ein Mal das Gleichnis vom Elefanten und den sechs Blinden. In diesem Fall konnte keiner der Blinden einen kompletten Eindruck vom Elefanten erwerben, trotzdem hatte jeder von ihnen ein gewisses "Bild" im Kopf. Ob das Bild nun richtig oder falsch ist, sei dahingestellt. Um das richtige, komplette, wünschenswerte "Bild" im Kopf abzuspeichern, muss dem Blinden die Möglichkeit gegeben werden, es komplett "begreifen" zu können. Das ist auch eine große Herausforderung für BlindenlehrerInnen und -betreuerInnen. Ein kleiner Stoffelefant kann niemals das richtige, wünschenswerte "Bild" vermitteln und wo bekommt man den lebendigen Elefanten für den Biologieunterricht her, der es sich gefallen lässt, von allen Seiten abgegrapscht, abgeschnuppert und vielleicht auch noch abgeschleckt zu werden? Also, was ich damit sagen möchte ist, dass Blinde nicht selten ein nicht komplettes "Bild" von etwas haben und trotzdem sind dies genau diese "Bilder", die in ihren Träumen eine große Rolle spielen.

Lesenswert!

"Die schönsten Dinge des Lebens kann man nicht sehen oder gar berühren. Nur das Herz fühlt sie." 

(Helen Keller, gehörlose, blinde, amerikanische Schriftstellern, 1880-1968)

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