Cover des Buchs

@ DVA

 

Kompliziertes Liebesverhältnis

Vandad, ein athletischer, baumlanger Mann mit der Wirkung eines Leibwächters, kommt von Anfang an zu Wort und gibt sich als ein Mensch von bescheidenen geistigen Kräften zu erkennen, eine Straßensprache verwendend, die ehemalige Kontakte zu härteren Kreisen durchblicken lässt. Außer Samuel scheint ihn niemand zu mögen, vor allem nicht Laide, die quasi auf den ersten Blick eine Abscheu gegen ihn entwickelt und nur angesichts seines Erscheinungsbilds einen – allerdings widerwilligen – Respekt empfindet. Mit dieser fragwürdigen Existenz lebt Samuel zusammen, in einer Welt, in der das Geld wenig bedeutet ("Alles gleicht sich wieder aus"), die Sehnsucht nach rauschhaften Abenteuern aber viel. Denn Samuel möchte "sein Erfahrungskonto auffüllen", also Ereignisse besuchen und heraufbeschwören, um sie als gehaltvolle Anreicherungen im Innern zu behalten. Gegen Ende des Romans treten immer mehr Vandads Grobheiten und Schuldverstrickungen zutage. Trotzdem erscheint er wie ein auf Abwege geratener Heiliger: Wegen seiner absoluten Loyalität zu Samuel. Der hat zwischendurch ein intensives Liebesverhältnis mit Laide, die von einem beinahe übertriebenen sozialen Engagement angetrieben wird. Keine Demonstration oder Protestveranstaltung auslassend, hilft sie vor allem den in Stockholm angekommenen Flüchtlingen, und das als Dolmetscherin. Als Samuels Oma unfreiwillig in ein Pflegeheim umzieht, überlässt er aufgrund starker, drängender Anregung von Laide das Haus drei Flüchtlingsfrauen. Aus drei Personen mit Kindern werden schließlich über fünfzig. Und das Haus brennt.

 

Viele Faktoren spielen zusammen

Dieses Buch ist kein typischer Schrifsteller-Roman, der durch feine, poetische Formulierungen besticht. Die Sprache kommt, ganz im Gegenteil, etwas holprig und unverblümt daher. Das liegt zweifelsohne am Khemiris Vorhaben, Interviews und unretuschierte Gepräche sprechen zu lassen zum Zweck der Authentizität (die freilich auch nur eine konstruierte ist). Laide, abgeleitet von Adelaide, scheint zunächst Samuels große Liebe zu sein, aber die Beziehung leidet bald unter ihrem Misstrauen, ihrer Kontrollsucht und Eifersucht. Ein leiser Widerwille regt sich in ihr, der zunehmend anwächst – bis ihr letztlich ein Gefühl einer ausweglosen Sackgasse bewusst wird und sie schluss macht. Der anhaltende Liebeskummer Samuels scheint ein ausreichender Grund zu sein, sich frühzeitig aus dem Staub zu machen. Doch Khemiri hütet sich davor, Schuld zuzuweisen und dem Rezipienten ein kompaktes Fazit vorzulegen, stattdessen flüchtet er sich - als Kunstgriff - in Perspektiven. Warum bringt sich Samuel ausgerechnet nach dem brennenden Haus um? In einem Haus, wo sein unzertrennlicher Kumpel Vandad gelegentlich den Aufpasser spielte und eine Verwaltungsgebühr verlangte, weil er wegen fehlender Pässe sofort zur Polizei gehen könnte? Verwunderlich ist auch, dass sich Samuel kurz vor seinem endgültigen Finale so intensiv um seine Oma kümmert, als habe er ein schlechts Gewissen. Nun, Spannung kann erst gar nicht aufkommen – das "Ergebnis" steht ja von vorherein fest. Dennocht entfaltet der Autor einen gewaltigen Sog, der einen Glauben macht, die Wahrheit rücke kontinuierlich ein Stück näher. Verblüffend ist am Ende nur das komplizierte Verhältnis zu Samuel. Laut Oma hat Samuel fortwährend von Vandad gesprochen, nicht von Laide. "Ich glaube, er hat ihn geliebt", sind ihre letzten Worte zum Ich-Schriftsteller. Immerhin, es lohnt sich, diese Spurensuche, diesen Weg zu Samuel mitzumachen. Trotz einiger Schwachstellen lässt sich schließlich sagen: Es ist ein großer Roman geworden.

Jonas Hassen Khemiri: Alles, was ich nicht erinnere. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017, 330 Seiten


 

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