Polizeiliche Kriminalstatistik: Nur zum Teil beunruhigende Entwicklung der Jugendgewalt

Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) ist die wichtigste Kriminalstatistik für Deutschland und wird jährlich vom Bundeskriminalamt (BKA) veröffentlicht. Sie ist mehrere hundert Seiten stark, gespickt mit Daten zu Tätern, Opfern und Fällen. Die aussagekräftigste statistische Größe für die Beurteilung der Kriminalitätsentwicklung ist die sogenannte Tatverdächtigenbelastungszahl (TVBZ). Mit ihr wird angegeben, wie viele Tatverdächtige auf 100 000 Personen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe kommen. Die TVBZ für Jugendliche und Heranwachsende ist im Zeitraum von 1998 bis 2008 langfristig gesunken – bezogen auf die Jugendkriminalität insgesamt.

Im Vergleich dazu sind die Zahlen zur Jugendgewalt weit weniger eindeutig. Die TVBZ für Jugendliche und Heranwachsende bezogen auf Raubtaten ist im Zeitraum von 1998 bis 2008 trotz einiger Schwankungen langfristig gesunken. Beunruhigend sind dagegen die Zahlen für schwere und gefährliche Körperverletzung. Lag die TVBZ für Jugendliche im Jahr 1998 noch bei 565, ist sie langfristig in einem Zeitraum von zehn Jahren bis auf 876 im Jahr 2008 angestiegen. Die TVBZ für Heranwachsende hat sich im gleichen Zeitraum von 600 im Jahr 1998 auf 934 im Jahr 2008 erhöht.

Die neuesten Zahlen der PKS für das Jahr 2010 zeigen dagegen sowohl für die Jugendkriminalität insgesamt als auch für die Jugendgewalt eine niedrigere TVBZ im Vergleich zum Vorjahr.

Doch wie aussagekräftig sind die Zahlen der Kriminalstatistik? Die TVBZ bezieht sich jeweils nur auf die deutschen Tatverdächtigen, nicht aber auf Ausländer. Zudem weist das BKA ausdrücklich auf die begrenzte Aussagekraft ihrer Statistik hin. Grund dafür ist vor allem das sogenannte Dunkelfeld. Das sind Straftaten, die die Polizei nicht registriert und die somit nicht in die PKS einfließen. Nur ein kleiner Teil der registrierten Straftaten wird von der Polizei selbst ermittelt. Meist erfahren die Strafverfolgungsbehörden von einem Verbrechen durch die Anzeige eines Opfers.

Die Aussagekraft der PKS hängt also maßgeblich von der Anzeigebereitschaft der Bevölkerung ab. Wie groß diese Bereitschaft ist und wie stark sie schwankt, darüber gibt es keine zuverlässigen Zahlen. Dass Straftaten im öffentlichen Raum inzwischen immer häufiger von der Polizei entdeckt werden, liegt vor allem an einem immer engmaschigerem Netz der Videoüberwachung.

Verdrängungseffekte, wie sie bei anderen Tätergruppen durchaus vorkommen, die an andere Orte ohne Videoüberwachung abwandern, sind bei jugendlichen Gewalttätern eher nicht zu erwarten. Sie handeln typischerweise spontan, meist unter erheblichem Alkoholeinfluss. Da bleibt keine Zeit für klares Denken.

Ergebnis einer aktuellen kriminologischen Studie: Jugendgewalt nicht häufiger als früher

Die derzeit wichtigste und umfassendste Studie zur Entwicklung der Jugendkriminalität in Deutschland ist die Schülerbefragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) in Zusammenarbeit mit dem Bundesinnenministerium (BMI) aus dem Jahr 2009. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurden in den Jahren 2007 und 2008 in ganz Deutschland insgesamt über 44 000 Schüler der neunten Klasse aller Schulformen unter anderem zu ihren Gewalterfahrungen befragt. Das Ergebnis der Studie: Schwere Jugendgewalt ist äußerst selten. Weniger als drei Prozent der befragten Schüler gaben an, in den letzten zwölf Monaten vor der Befragung eine schwere Körperverletzung oder eine Raubtat begangen zu haben. Nach den Ergebnissen der Studie sind Sachbeschädigungen (circa 15 Prozent), Ladendiebstähle (circa 13 Prozent) und einfache Körperverletzungen (circa 11 Prozent) am häufigsten. Rund fünf Prozent der befragten Schüler gaben an, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal Opfer eines Raubs oder einer Erpressung geworden zu sein. Noch weniger Schüler, rund drei Prozent, haben eine schwere Körperverletzung erlebt. Regionale Unterschiede bei der Kriminalitätsbelastung in verschiedenen Teilen Deutschlands sind nach den Ergebnissen der Studie eher gering. Dagegen besteht laut der KFN-Studie ein gewisses Stadt-Land-Gefälle. In Großstädten gibt es mehr jugendliche Gewalttäter als in ländlichen Gebieten.

Und wie war es früher? Das Fazit der Forscher: Unterm Strich ist Jugendgewalt heute genauso häufig wie vor einigen Jahren, wenn nicht sogar seltener. Dies ergebe nicht nur der Vergleich der Ergebnisse der aktuellen Untersuchung mit denen älterer Studien, sondern auch die Analyse von Versicherungsstatistiken.

Wie bei der PKS stellt sich auch hier die Frage nach der Aussagekraft. Die Kriminologen des KFN sprechen von einer für Deutschland repräsentativen Studie. Das Forschungsinstitut machte – wie in der Sozialforschung vor allem aus Kostengründen üblich – statt einer Vollerhebung eine Teilerhebung. Statt alle Neuntklässler in Deutschland zu befragen, wurde nur ein Teil der Schüler befragt. Zwar stimmt die von den Forschern gezogene Stichprobe auf den ersten Blick in vielen Punkten weitgehend mit der tatsächlichen Zusammensetzung der Gruppe aller Neuntklässler in Deutschland überein. Von 71 891 Schülern, die ursprünglich befragt werden sollten, haben jedoch nur rund 44 000 Schüler teilgenommen. Lässt die Studie mit einer derart verringerten Stichprobe noch eine zuverlässige Aussage über alle Neuntklässler in Deutschland zu?

Unklar ist, in welchem Ausmaß insbesondere starke Schulschwänzer in der Studie nicht erfasst wurden. Dies ist besonders problematisch. Denn nach kriminologischen Erkenntnissen besteht ein Zusammenhang zwischen starkem Schulschwänzen und abweichendem Verhalten. Schulschwänzerei und Kriminalität gehen häufig Hand in Hand – gerade bei Intensivtätern. Hinzu kommt: Viele jener Intensivtäter erreichen die neunte Jahrgangsstufe erst gar nicht und fallen dadurch ebenfalls durchs Raster. Nicht zuletzt haben die Forscher des KFN – wie alle Sozialforscher – mit weiteren methodischen Problemen zu kämpfen. Die Gretchenfrage lautet: Schüler, wie hast du's mit der Wahrheit?

Auch wenn einiges darauf hindeuten mag, dass die Jugendgewalt insgesamt statistisch gesehen nicht angestiegen ist, sicheres Wissen darüber gibt es nicht. Darauf kommt es auch nicht an. Denn das Problem der Jugendgewalt bleibt – insbesondere in den Großstädten. Vor allem Jugendrichter berichten aus dem eigenen Berufsalltag von der zunehmenden Brutalität der Täter. Doch die wird derzeit weder mit der PKS, den Justiz- und Versicherungsstatistiken noch mit kriminologischen Dunkelfeldstudien hinreichend erfasst.

Autor seit 13 Jahren
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