Zwei weitere Fälle von Kindstötung unmittelbar nach der Geburt fallen in die Zeit, in der Johann Wolfgang von Goethe am Weimarer Hof tätig war. Einer davon ereignete sich 2 Jahre vor der Hinrichtung von Johanna Catharina Höhn, im anderen Fall liegen Geburt und Tat zwar ebenfalls (ganze sieben Tage!) vor diesem tragischen Ereignis, allerdings erfolgte die Aburteilung erst NACH Johannas Enthauptung.

In beiden Fällen war neben den beiden Consiliums-Mitgliedern Christian Friedrich Schnauss (1722 – 1797) und Jakob Friedrich Freiherr v. Fritsch (1731 – 1814) auch wiederum Johann Wolfgang v. Goethe (1749 – 1832) beteiligt. Den Akten zufolge übten aber weder er noch die beiden anderen nennenswerten Einfluss auf die Entscheidungsfindung aus.

Genau DIESER Umstand, der Unterschied zur Verurteilung von Johanna Catharina Höhn, macht beide Fälle interessant.

Die Betrachtung der beiden Tragödien, die schon für sich gesehen unterschiedlicher nicht sein könnten, zeigt deutlich, welchen Weg das Verfahren um Johanna Catharina Höhn hätte nehmen können, wäre es NICHT zu jenem folgenschweren Votum Goethes gekommen.

Wiederum ist es Rüdiger Scholz, der beide Fälle in seinem Buch "Das kurze Leben der Johanna Catharina Höhn" nicht nur ausführlich darstellt, sondern minutiös an Hand der wortwörtlich abgedruckten Unterlagen des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar mit Fakten untersetzt.

Margarethe Dorothea Altwein

Am 11. Februar 1781 bringt die Dienstmagd Margarethe Dorothea Altwein aus Gelmeroda bei Weimar in der Küche "vor dem Heerde" des Hofgärtners Bleydern einen Jungen zur Welt und tötet ihn unmittelbar nach der Geburt.

Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach (1757 – 1828) ist zu diesem Zeitpunkt 24, die Täterin vermutlich um die dreißig Jahre alt (Genaueres ist nicht zu ermitteln). Damit ist Carl August zwar der mächtigste, zugleich aber auch der mit Abstand jüngste Beteiligte an den Begebenheiten, die nunmehr geschildert werden sollen.

Dorothea Altwein verheimlicht ihre Schwangerschaft bewusst "gegen jedermann". Spätestens seit Weihnachten 1780 trägt sie sich mit der Absicht, das Baby nach der Geburt zu töten und in die Ilm zu werfen. Die Natur macht ihr jedoch einen Strich durch die Rechnung. Vermutlich durch eine Sturzgeburt kommt der Junge frühmorgens um 6 Uhr zur Welt; Dorothea entbindet im Stehen, das Kind fällt zu Boden. Weil es noch Lebenszeichen von sich gibt, schlägt es die Mutter mit dem Kopf gegen die "scharfe Ecke" der Küchenwand. Unmittelbar danach wird die Tat von der Dienstherrin entdeckt, so dass Dorothea das Kind nicht mehr verstecken oder wegbringen kann.

So die offizielle Darstellung des Tathergangs in den Akten.

Das alles gibt die Angeklagte in ihrer Vernehmung unumwunden zu, nimmt damit ihrem Verteidiger von vorneherein jeden Argumentationsspielraum und wird deshalb gemäß § 131 der Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina) zum Tode durch Ertränken verurteilt. Der Vollzug der Strafe soll dergestalt vonstattengehen, dass die Verurteilte samt einem Hund, einem Hahn, einer Schlange und einer Katze in einen Sack gesteckt und ins Wasser geworfen wird.

Auf den ersten Blick scheint die Sache völlig klar. Die Hintergründe jedoch, die eine Frau zu einer solchen Tat bewegen, bleiben in den Akten ebenso im Dunkeln wie die Antwort auf die Frage, weshalb sich am Tatort nirgends Blut fand, obwohl doch das Kind schwere Kopfverletzungen aufwies. Auch die Nachgeburt ist verschwunden bzw. wurde nicht untersucht, an Hand derer hätte festgestellt werden können, ob das Baby überhaupt gelebt hat.

Dorotheas Verteidiger nämlich zweifelt den dargestellten Tathergang an und begründet dies damit, dass die Angeklagte auf Grund des psychischen und physischen Ausnahmezustandes gar nicht beurteilen könne, ob das Baby gelebt habe oder nicht. Möglicherweise hat Dorothea aber auch ganz bewusst, nämlich aus Angst vor dem Zuchthaus (das ihr offenbar, entsprechend der damals verbreiteten auch juristischen Auffassung, mehr Angst einflößt als der Tod) oder aus "Überdruss des Lebens" (Depression) und aus "Furcht vor der Marter" (Folter) die Tat weit schlimmer dargestellt als sie war.

Fakt ist: Dorothea Altwein leidet – wie auch heute noch all jene Frauen, die wegen Kindstötung (Neonatizid) verurteilt wurden oder werden – monatelang unter furchtbaren Ängsten! Und diese Ängste sind im Angesicht des Richters und selbst nach dem Urteil noch längst nicht ausgestanden!

Zum einen wurde Dorothea laut eigener Aussage von ihrer Mutter für den Fall einer Schwangerschaft massiv unter Druck gesetzt (auch das ist eine noch heute gar nicht seltene traurige Erscheinung). Diesen Einwand wischt das Gericht als nicht erheblich vom Tisch. Zum anderen muss Dorothea Altwein bewusst gewesen sein, welche existentiellen, sozialen und moralischen Folgen eine uneheliche Geburt damals gehabt hätte (Verachtung, keine Arbeit, kein Partner, kein Einkommen). Der Verlust ihrer Jungfräulichkeit, der in den Akten am Rande erwähnt wird, scheint ebenfalls ein Aspekt gewesen zu sein, auch wenn junge Frauen sich das heutzutage kaum noch vorstellen können und vielleicht darüber lächeln, wissend, dass sie über ihr Sexualleben ganz selbstverständlich schon früh selbst bestimmen.

Klar ist Dorothea auch, dass sie in ihrer Situation von niemandem ernsthaft mit Hilfe oder Unterstützung rechnen kann.

Der Vater des Kindes ist bekannt. Er heißt Abraham Eißmann und wird, da er ledig ist und ihm daher kein Ehebruch vorgeworfen werden kann, zu 8 Tagen Gefängnis wegen "Hurerei" und zur "Erstattung eines Teils der verursachten Kosten" verurteilt. Ein Jahr lang darf er "Stadt und Amt" Weimar nicht betreten. Es gibt kein eigenes Verfahren gegen ihn, vielmehr wird er sozusagen nebenbei mit verurteilt.

Die Gründe, weshalb er Dorothea nicht geheiratet hat, bleiben unbekannt und werden auch im Verfahren nicht hinterfragt. Immerhin darf man aus diesem Umstand schließen, was WIEDERUM auch HEUTE keine Seltenheit ist, dass nämlich der Kindesvater keinerlei Interesse an Kind und Mutter hat, sich selbstverständlich keiner Schuld (und erst recht keiner Mitverantwortung) bewusst ist und daher auch von ihm keine Hilfe zu erwarten ist.

Mit seinem Urteil vom 31. März 1781 verurteilt der Schöppenstuhl zu Jena Margarethe Dorothea Altwein zum Tode durch Ertränken. Zugleich wird dem Herzog anheimgestellt, "Gnade vor Recht ergehen zu lassen" und das Urteil auf "Enthauptung durch das Schwert" abzumildern.

Am 31. Mai 1781 lässt Herzog Carl August tatsächlich "Gnade vor Recht" ergehen – und wandelt das Todesurteil in eine lebenslange Zuchthausstrafe um!

Es ist offensichtlich, dass Carl August die Todesstrafe im Fall Altwein, in den folgenden beiden Verfahren wie auch GENERELL bei Kindstötung unter oder unmittelbar nach der Geburt nicht mehr angewendet sehen will.

Ausgerechnet diesen Umstand werden "Goetheverehrer" später dazu benutzen, dem Herzog Unmenschlichkeit zu unterstellen und die Todesstrafe im Fall Höhn, an der Goethe maßgeblich beteiligt war, als eine typisch Goethe'sche, ja geradezu humane Wohltat erscheinen zu lassen.

Goethe paraphiert neben anderen ein Schreiben, in dem der Herzog das "Geheime Consilium" bereits am 27. April 1781 über seine Entscheidung INFORMIERT. Etwaige Kritik schließt die Formulierung von vorneherein aus.

Carl August ist sich bewusst, dass die Zeit für seine Ansichten nicht nur in der Frage der Todesstrafe bei Infantizid (nach heutiger Definition meint er Neonatizid), sondern z. B. auch in der Frage der Zulässigkeit der Folter zum Erzwingen eines Geständnisses noch längst nicht reif ist – jedenfalls nicht in dem durch Kleinstaaterei und Engstirnigkeit gefesselten Deutschland.

Um die Wogen der öffentlichen Empörung flach zu halten, ordnet er an, dass Dorothea ihre Strafe in einem "auswärtigen Zucht- und Arbeitshaus" verbüßen soll. Die Verurteilte wird deshalb nach Bayreuth überführt.

17 Jahre später.

Mit Schreiben vom 3. August 1798 legt Regierungskanzler Johann Friedrich von Koppenfels dem Herzog ein Gnadengesuch von Margarethe Dorothea Altwein vor, welchem ein überaus positives Zeugnis der Zuchthausverwaltung Bayreuth beiliegt. Darin wird bescheinigt, dass Dorothea eine der "fleißigsten und ordentlichsten Dirnen" im Zuchthaus sei. Ohne Umschweife wird vorgeschlagen, die Frau entweder freizulassen oder zumindest die Haftbedingungen zu lockern. Eine besondere, in Franken mit dem Gnadengesuch befasste Kommission sowie die "Königlich Fränkische Kriegs- und Domainen-Cammer" bekräftigen das Vorbringen.

Herzog Carl August reagiert erwartungsgemäß: Am 29. August 1798 begnadigt er Margarethe Dorothea Altwein und verfügt ihre sofortige Freilassung.

Zu diesem Zeitpunkt ist Johanna Catharina Höhn bereits 15 Jahre tot - 15 Jahre, in denen vielleicht auch sie die Chance auf eine Begnadigung zu einer zeitigen Freiheitsstrafe oder gar Freilassung gehabt hätte, zumal sich ihr Fall bei weitem weniger eindeutig darstellt, ihre Schuld keineswegs bewiesen ist und Carl August mit einiger Wahrscheinlichkeit später wieder darauf zurückgekommen wäre.

Allein die Chance, die HOFFNUNG auf Freiheit, wenn auch nach jahrelanger Haft, widerlegt die aberwitzige Behauptung, Goethe habe Johanna Catharina Höhn mit der Todesstrafe eine Gnade erweisen wollen.

Da Dorothea nicht nach Sachsen-Weimar-Eisenach zurückkehren darf, verliert sich ihre Spur. Sie hat überlebt, hat die Chance zu einem Neuanfang, auch wenn der - damals wie heute - ALLES ANDERE als einfach ist …

Fassen wir zusammen:

Margarethe Dorothea Altwein wird, obwohl das Gericht in ihrem Fall keine Milderungsumstände erkennen kann und von Mord ausgeht, von Carl August begnadigt – zunächst zu einer zeitigen Haftstrafe, viele Jahre später, als niemand mehr ein Interesse an dem Fall hat, lässt er sie frei.

Johanna Catharina Höhn hingegen, obwohl bei ihr von Totschlag auszugehen ist, wird hingerichtet!

Rüdiger Scholz schlussfolgert daraus, dass sich der blutjunge Herzog Carl August mit seiner eigenmächtigen Entscheidung im Fall Altwein bei seiner Regierung unbeliebt gemacht haben könnte, im Fall Höhn deshalb vorsichtiger zu Werke gehen muss und daher (nicht ganz freiwillig) die Voten der Consiliums-Mitglieder zur Grundlage seiner Entscheidung macht. Demnach musste Johanna Catharina Höhn trotz nicht erwiesener Schuld sterben, weil zuvor Margarethe Dorothea Altwein begnadigt wurde – was für ein widerliches Machtspiel! Und mittendrin der "Dichterfürst" Johann Wolfgang von Goethe!

Dass Goethe an der BEGNADIGUNG von Dorothea Altwein NICHT beteiligt gewesen sein kann, ergibt sich unter anderem daraus, dass er 1798 längst kein Mitglied des Geheimen Consiliums mehr war. Dennoch erscheint es notwendig, dies zu erwähnen, denn in den folgenden Jahren und Jahrhunderten wird man mit allen Mitteln versuchen, Goethes äußerst zweifelhafte Rolle im Falle Höhn im Nachhinein zu verharmlosen, ja sogar als menschliche Glanzleistung darzustellen.

Maria Sophia Rost

Am 4. April 1783 bringt die damals 21jährige Maria Sophia Rost aus Mellingen bei Weimar auf dem Heuboden ihres Dienstherren (dort befand sich ihre Schlafstelle) ein totes Baby zur Welt, das sie zunächst unter einem schweren Stein, später dann unter einer Diele versteckt, wo es am 10. Mai 1783 gefunden wird.

Herzog Carl August verfügt die "Special-Inquisition" (Untersuchung des Falles) durch den Schöppenstuhl zu Jena.

Maria kann nicht sagen, ob das Kind bei der Geburt gelebt hat oder bereits tot war, was unter den Umständen einer allein durchgestandenen Geburt nicht ungewöhnlich ist. Sie bestreitet vehement, das Baby absichtlich getötet zu haben und bleibt bei ihrer Aussage, obwohl nach Angaben ihres Verteidigers das Gericht in den Verhören sehr hart vorgeht.

Was nun geschieht, zeigt einmal mehr die fortschrittliche Gesinnung des jungen Herzogs, mit der er sich durchaus auf der Höhe der Zeit befand, von seinen Beratern offenbar jedoch ausgebremst wurde:

Weil das Gericht die junge Frau nicht zu einem Geständnis bewegen kann, soll selbiges nun unter der Folter erzwungen werden. Hierzu soll Maria vom Scharfrichter entkleidet und ihr sodann Daumenschrauben angelegt werden. Unter der Tortur soll sie 26 bereits vorbereitete Fragen beantworten.

Herzog Carl August ist empört und teilt dem Gericht in scharfen Worten mit, dass er nicht geneigt sei, "an einem in Untersuchung geratenen Menschen, wenn derselbe sein Verbrechen nicht eingesteht, und (er) … dessen nicht überführt worden (ist), dergleichen Marter vollstrecken zu lassen."

Am 28. Oktober 1783 fordert er von seiner Regierung Vorschläge, mit welchen "der Menschheit (Menschlichkeit – M. L.) mehr angemessenen Mitteln" weiter verfahren werden soll. Auch Goethe paraphiert dieses Schreiben, hat also offenbar erneut Einfluss auf die Entscheidungsfindung.

Wie schon im Fall Höhn müssen die (in diesem Falle Regierungs-) Mitglieder Voten abgeben, welche jedoch bezeichnenderweise nicht mehr vorhanden sind. Wir erinnern uns: Auch ein von Goethe verfasster Aufsatz zum Thema Todesstrafe und insbesondere zur Erklärung seines Verhaltens im Falle Höhn ist merkwürdigerweise verschollen.

Fakt ist, dass nach Vorliegen der Voten Maria Sophia Rost von Carl August ohne Gerichtsverfahren zu lebenslangem Zuchthaus "verurteilt" wird, obwohl ihre Schuld nicht bewiesen werden kann und sie nach heutigem Recht hätte freigesprochen werden müssen.

Im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach jedoch gilt bereits die Verheimlichung einer Schwangerschaft als ausreichendes Indiz für einen von vornherein geplanten Mord (Man mag kaum glauben, dass selbst vor Gericht mitunter auch heute noch ähnlich argumentiert wird). Unter diesen Umständen, bei fehlendem Beweis der Tötung durch die Mutter, wäre eine 10jährige Zuchthausstrafe zu verhängen gewesen. Dass Carl August der Angeklagten eine um ein Vielfaches härtere Strafe auferlegt, erscheint zunächst seltsam.

Immerhin gelingt es ihm, Maria die Folter zu ersparen – und Zeit zu gewinnen!

Dass Carl August (wie man annehmen darf VON ANFANG AN) keineswegs daran gelegen war, Maria Sophia Rost lebenslang hinter Gitter zu schicken, wird rund 5 Jahre später deutlich.

Am 26. Juli 1788 stellt Marias älterer Bruder, der Bauer Johann Gottfried Rost, ein in tadelloser Kanzleisprache verfasstes Gnadengesuch für seine "unglückliche Schwester". Als Begründung bringt er u. a. vor, er benötige die Hilfe seiner Schwester in der Landwirtschaft.

Wieder ist es Regierungskanzler Johann Friedrich von Koppenfels, der dem Herzog mit Schreiben vom 16. Februar 1789 das Gesuch der "Maria Rostin aus Mellingen" vorlegt, welchem, wie schon im Falle Altwein, ein hervorragendes Zeugnis des zuständigen Weimarer Zuchthaus-Inspektors Premßler beiliegt.

Zwölf Tage später, am 28. Februar 1789 gibt Carl August dem Gnadengesuch statt und befiehlt seiner Regierung mit knappen Worten, das für die Freilassung Nötige zu "besorgen und (zu) verfügen" – auch dies wieder OHNE Beteiligung des Consiliums, das personell inzwischen allerdings ohnehin anders aussieht.

Die „Menschlichkeit“ der Todesstrafe

Dass es Goetheverehrer angesichts solcher, schon vor über 200 Jahren entstandenen Überlegungen fertigbringen, zum Ende des 20. und selbst noch in der vergangenen ersten Dekade des 21. Jahrhunderts Goethes tödliche Entscheidung gegen Johanna Catharina Höhn als eine Art "Gnadenerweis"  hinzustellen, ist AN SICH schon ein starkes Stück. Aber es ist noch längst nicht der einzige, mehr oder weniger plumpe Versuch, Geschichte zu verbiegen – oder besser gesagt: zurecht zu biegen!

Im Wesentlichen lassen sich folgende "Argumentationen" erkennen:

1. Die Todesstrafe als „kleineres Übel“

Die Todesstrafe sei das "kleinere Übel" gegenüber einer Zuchthaustrafe, die ggf. mit Abscheren des Haupthaares der Täterin, regelmäßiger Anprangerung (beides läuft auf Erniedrigung hinaus) und härtester Arbeit verbunden ist. Folglich habe Goethe menschlich gehandelt, indem er Johanna Catharina Höhn dem Scharfrichter auslieferte.

Was ist von einer solchen Argumentation zu halten?

Zunächst ist festzustellen, dass sich Herzog Carl August mit seinem Ziel, sowohl die Todesstrafe bei Kindstötung (Neonatizid) als auch die Folter abzuschaffen, im Einklang mit den Entwicklungen im Rahmen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts befindet.

Schon 1741 hat Kaiserin Elisabeth von Russland bei ihrer Krönung gelobt, die Todesstrafe nicht mehr anwenden zu wollen, was auch bis zum Ende ihrer Regierung 1761 so geschieht.

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts zeigen sich Bestrebungen, den Sühnegedanken (Vergeltungsstrafrecht) zu Gunsten eines erziehenden, bessernden, menschlicheren Strafrechts (Täterstrafrecht) unter Beachtung der Tatumstände und der Person des Täters fallen zu lassen. Dass "Strafe weder den Zweck hat, ein empfindendes Wesen zu quälen…" noch "ein bereits begangenes Verbrechen ungeschehen zu machen", hat der italienische Strafrechtsreformer Cesare Beccaria bereits 1764 formuliert. Der Zweck einer Strafe sei, so Beccaria, "den Verbrecher daran zu hindern, seinen Mitbürgern neuen Schaden zuzufügen und die anderen von gleichen Handlungen abzuhalten" – dies jedoch unter "Wahrung der Angemessenheit" und so, dass dem Schuldigen "möglichst geringes körperliches Leid" zugefügt wird. Die Anwendung der Todesstrafe verbietet sich somit von selbst.

Statt der Todesstrafe empfiehlt Beccaria die Abschreckung durch eine lang andauernde Freiheitsstrafe, in deren Rahmen der Verurteilte die Gesellschaft durch die Ergebnisse seiner Arbeit entschädigt.

Das klingt zunächst so, als ob eine lange Zuchthausstrafe tatsächlich schlimmer sein könne als der Tod. Dabei übersehen die Befürworter einer solchen Argumentation aber einen ganz entscheidenden Fakt, der letztendlich auch in den beiden Fällen Altwein und Rost, an denen Goethe nicht oder nur unerheblich beteiligt war, zum Tragen kommt:

Ein Mensch nämlich, der zu einer zeitigen Freiheitsstrafe verurteilt wird, hat Aussicht auf Begnadigung und kann ggf. durch sein eigenes Verhalten in der Haft an jenem größten Ziel, dass ein denkender und fühlender Mensch haben kann – Freiheit – mitarbeiten! Das bedeutet Hoffnung, bedeutet die Möglichkeit, zu würdevollem, selbstbestimmtem Leben zurückzufinden und in Freiheit zu zeigen, dass eine einzelne Tat, ein einmaliges (bei Neonatizid zudem meist unabsichtliches) Versagen eine AUSNAHME und NICHT das WESEN der Täterin darstellt!

2. Die abstrakte Darstellung der Voten des Geheimen Consiliums

Noch bis in die Gegenwart wird behauptet, die Voten der drei Consiliums-Mitglieder Schnauss, v. Fritsch und v. Goethe hätten lediglich allgemeinen, die Todesstrafe an sich betreffenden Charakter und nichts mit dem Fall Höhn zu tun.

Plumper geht's fast nicht mehr! Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem gleich 2 Frauen (Johanna Catharina Höhn und Maria Sophia Rost) in Untersuchungshaft sitzen, denen Kindstötung (Neonatizid) vorgeworfen wird, in deren Fällen Entscheidungen unmittelbar bevorstehen, will man dem Leser weismachen, die Erörterungen hätten nur allgemeinen Charakter getragen?

Zudem bezieht sich zumindest Schnauss in seinem Votum ausdrücklich auf die "Höhnin" und empfiehlt, sie "am Leben bestrafen zu lassen", also hinzurichten, womit sich der genannte Einwand erledigt hat.

3. Die Gleichbehandlung der Voten von Schnauss und v. Fritsch

Ebenfalls noch bis in die Gegenwart hinein liest man immer wieder, die beiden Consiliums-Mitglieder Christian Friedrich Schnauss und Jakob Friedrich Freiherr v. Fritsch hätten übereinstimmend votiert und Johann Wolfgang v. Goethe habe sich ihren Voten lediglich angeschlossen (genau diesen Eindruck will Goethe mit seinem Votum ja auch vermitteln).

Selbst der frühere Direktor des Thüringer Hauptstaatsarchivs Weimar, Willy Flach, scheint die Unterschiede in den Voten nicht bemerkt zu haben, was kaum glaubhaft erscheint, ist er doch ansonsten als gewissenhafter Historiker und Archivar bekannt und geachtet.

Die wortwörtliche Veröffentlichung aller die drei Fälle betreffenden Dokumente durch Rüdiger Scholz 2004 sollte derart seichten Argumentationen eigentlich die Grundlage entziehen, denn nun kann ja jedermann nachlesen, WAS damals geschrieben wurde. Trotzdem erscheint noch 2009 ausgerechnet in einem Lehrmaterial des Thüringer Instituts für Lehrefortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (Thillm) eine ähnlich unzulässig verknappte Bemerkung:

"Der Herzog befragte seine engsten Vertrauten, das "Geheime Concilium", dem neben Goethe als Minister am Weimarer Hof noch zwei weitere hohe Hofbeamte angehörten. Sie stimmten dem Todesurteil zu…"

Goethe taucht also auch hier nur als einer von Dreien auf, die sich scheinbar einig waren. Kein Wort von seiner Rolle als "Zünglein an der Waage"; kein Wort davon, dass auch Herzog Carl August selbst Mitglied des Consiliums war und votierte. Dass Goethe hier auch nicht in seiner Eigenschaft als Minister tätig wurde, sei nur am Rande bemerkt.

Das Material ist eigentlich als Begleitmaterial zu einem hervorragend gelungenen Film zum aktuellen Thema "Kindstötung" gedacht.  Dass nun ausgerechnet in einem solchen Rahmen, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die Hirne von Schülerinnen und Schülern allen Ernstes mit Gedanken über "Gretchens Rettung" durch eine "himmlische Gerichtsbarkeit" vernebelt werden, bedarf wohl keines Kommentars.

4. Das gnädige Consilium

Während zahlreiche Kommentatoren zu Goethes "Faust" die Gretchenszene zwar mit den wärmsten Worten analysieren und dabei nicht müde werden, Goethes humanistische Gesinnung zu loben, bleibt das Schicksal der Johanna Catharina Höhn bei fast allen komplett unerwähnt.

Wollte man zynisch sein, so könnte man meinen, die junge Frau wird zum zweiten Mal einem "höheren Zweck" geopfert – hier einem idealisierten Goethebild.

Nur Albrecht Schöne (1994, überarbeitet 2003) erwähnt Johanna Catharina Höhn – und wiegelt sogleich wieder ab, indem er forsch behauptet, "andere Kindesmörderinnen … (seien) … auf Vorschlag des Consiliums, also auch Goethes, in Weimar begnadigt worden."

Netter Versuch, aber leider falsch.

Drei Kindstötungen fallen in die Zeit Goethes als Mitglied im Geheimen Consiliums. Keiner einzigen dieser Frauen hat irgendjemand aus dem Geheimen Consilium – außer dem jungen Herzog selbst – das Leben gerettet!

1. Margarethe Dorothea Altwein wurde zwar nach einem bereits ausgesprochenen Todesurteil des Jenaer Schöppenstuhls begnadigt, allerdings durch einen gewagten Alleingang von Herzog Carl August OHNE Beteiligung des Geheimen Consiliums, wodurch sich selbiges offenbar brüskiert fühlte.

2. Johanna Catharina Höhn wurde, wie bekannt, auf Grund der ausführlichen Voten des Geheimen Consiliums und insbesondere der Befürwortung der Todesstrafe durch Goethe, enthauptet, obwohl ihre Schuld nicht erwiesen war.

3. Maria Sophia Rost wurde zwar ebenfalls begnadigt, allerdings kam es hier gar nicht erst zu einem Verfahren, so dass von einer maßgeblichen Beteiligung des Geheimen Consiliums überhaupt keine Rede sein kann. Das nimmt auch nicht wunder, denn Christian Friedrich Schnauss schreibt gleich in der Einleitung zu seinem Votum in Sachen Johanna Catharina Höhn, dass es eigentlich nicht Aufgabe dieses Gremiums sei, richterliche Befugnisse wahrzunehmen oder auch nur entsprechende Empfehlungen zu geben.

Um WEN es sich also bei den "anderen Kindesmörderinnen" handeln soll, bleibt Schönes Geheimnis.

5. Das überforderte Genie

Zum Schluss noch ein Argument, das eigentlich keines Kommentars bedarf:

Indem man indirekt Goethes Fehlverhalten anerkennt, behauptet man zugleich, man könne von einem literarischen Genie wie Goethe ja nun beim besten Willen nicht verlangen, dass er auch in kriminalistischer bzw. juristischer Hinsicht perfekt sei. Mit anderen Worten: So ein Todesurteil kann ja mal passieren …

Gezielte Faktenunterschlagung

Was hat sich seit der Veröffentlichung sämtlicher relevanter Dokumente geändert?

Kurz gesagt: Nicht viel.

Am 8. Mai 2006 nimmt sich die FAZ der Sache an. Als sei nichts gewesen wird hier - welch Wunder - plötzlich die "Vorsätzlichkeit der Tat" von Johanna Catharina Höhn behauptet, obwohl die aus den NUNMEHR JEDEM ZUGÄNGLICHEN Akten eben gerade NICHT hervorgeht.

Johanna Catharina Höhn hat ihre Schwangerschaft nicht verheimlicht, möglicherweise hat sie nicht einmal gewusst, dass sie schwanger ist. Sie wurde von der Niederkunft überrascht. Da das Gericht infolgedessen eben gerade NICHT von Vorsatz ausgeht, mildert es die Strafe von "Tod durch Ertränken" in "Tod durch das Schwert". Was ist daran so schwer zu verstehen?

Erneut wird auch noch 2006 behauptet, der Herzog "verlagerte die Frage vom Einzelfall ins Prinzipielle", was bereits oben widerlegt wurde.

Und noch immer spricht man von der "peinigende(n) Alternative", welche die Zuchthausstrafe im Vergleich zur Todesstrafe darstelle, offenbar ohne auch nur ein Wort der ebenfalls bereits ausgeführten Abwägungen zwischen beiden Strafarten, wie sie ähnlich auch Rüdiger Scholz vornimmt, verstanden zu haben.

Nicht zuletzt sollte doch wohl am Beginn des 21. Jahrhunderts jedem klar sein, dass es sich bei der Todesstrafe um einen geradezu ultimativen Verstoß gegen das wichtigste aller Menschenrechte, das RECHT AUF LEBEN handelt!

Sind wir wirklich bereit, die unteilbaren und allgemeinen Menschenrechte, um die in Jahrhunderten und insbesondere während der Aufklärung gerungen wurde, hintenanzustellen, nur, um ein liebgewordenes (und einträgliches) Ideal nicht zu beschädigen?

Rüdiger Scholz habe, so die FAZ, "kein Wort der Erklärung" dafür, weshalb Goethe sich in seinem Votum gegen die Ansichten seines Landesherrn stellt. Mit Verlaub: Genau diese Erklärung ist wesentlicher Inhalt des Buches!

Mitunter wird man den Eindruck nicht los, es mit trotzigen Kindern zu tun zu haben, wenn es darum geht, in Sachen Goethe Sein vor Schein gelten zu lassen.

Der „Herzog“ spricht Klartext!

"Diese Idealisierung … hat bis in die jüngste Vergangenheit den klaren und nüchternen Blick auf Leben und Werk Goethes oft eher verstellt. Auch im Hinblick auf ihn haben gerade neuere Forschungen die alte, in seinem Fall aber besonders ernüchternde Erkenntnis bestätigt, dass es den idealen Menschen nicht gibt, wie sehr er selbst oder andere ihn auch dazu stilisieren … Es war Goethe, Mitglied des Geheimen Consiliums des Herzogs Carl August, der für die Vollstreckung der Todesstrafe an einer verzweifelten und von allen verlassenen Kindesmörderin plädierte … Es war Goethe, der Studenten und Professoren der Universität Jena bespitzeln ließ und zur Entlassung Fichtes beitrug …"

Was für eine ungeheuerliche Äußerung über den "Dichterfürsten" und strahlenden Humanisten Johann Wolfgang von Goethe!

Und diese Worte wären mit einiger Sicherheit NIE in einem nennenswerten Medium unserer Zeit erschienen, kämen sie nicht von einem Mann, dem man zutrauen darf, dass er weiß, was er sagt: dem ehemaligen Richter und späteren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes und schließlich der Bundesrepublik Deutschland: Roman Herzog!

© Mario Lichtenheldt

Quellen

Quellen:

Scholz, Rüdiger, Das kurze Leben der Johanna Catharina Höhn, Königshausen & Neumann, 1. Auflage, Würzburg 2004

ISBN-10: 3826029895, ISBN-13: 978-3826029899, 176 Seiten.

Zitate aus dort abgedruckten Originalakten wurden rechtschreiblich angepasst, inhaltlich aber nicht verändert. Das Biuch enthält sämtliche Texte in der Original-Rechtschreibung.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.05.2006, Nr. 106 / Seite 38

http://www.faz.net/s/RubC17179D529AB4E2BBEDB095D7C41F468/Doc~ECE462F450809470BBBA6524DD87E4555~ATpl~Ecommon~Scontent.html

"nebenan", Begleitheft zum gleichnamigen Film von Wolfgang Bauer, herausgegeben vom Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien, ISSN 0944-8705, Bad Berka, 2009.

Foto: "Schluss", korkey, www.pixelio.de

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