Michael Kargus als MC und die Kit Kat Girls

© Jan Wirdeier

 

Freizügigkeit und ein bisschen Liebe

Das Musical fängt an mit Silvester 1929 und gibt als Dreingabe noch ein paar Tage dazu. Frivole Berliner Amüsierclubs haben Hochkultur und feiern eine ungeahnte Blüte. Im TIPI sitzt man an kleinen Tischen, man speist elegant und – wenn die Zeit ein wenig fortgeschritten ist – trinkt weniger elegant. Exakt wie im Berlin der Weimarer Republik, deren Blüte in den letzten Jahren aus politischen Gründen zu erlöschen begann. Damals glorifizierte man mit Inbrunst das teilweise entgrenzte Amüsement, die leichtlebige Heterosexualität und die analstimulierte Travestie. Damals goutierten das solche Leute wie Heinrich Mann, und auch Klaus Mann, der zufällig dort seinen zerstreuungsbedürftigen Onkel traf. Aber die vom Kit Kat Club – permanent wird auf der Bühne die lederfreundliche sexuelle Freizügigkeit zelebriert – inszenierte Unterhaltung greift nicht immer auf den Alltag über. Cliff Bradshaw (Guido Kleineidam) und Sally Bowles (Sophie Berner), die gerne ihre hochhackigen violetten Pumps an- und auszieht, haben trotz ihrer hochtrabenden Pläne finanzielle Schwierigkeiten. Es geht ums Geld, ums nackte Überleben, und Bradshaw erfüllt sogar Botengänge in Paris für einen vermuteten Freund (Torsten Stoll), der sich jäh als Nationalsozialist erweist.

 

Liebe auf den dritten Blick

Sophie Berner als Sally Bowles und Guido Kleineidam als Clifford Bradshaw

© Jan Wirdeier

 

Die faschistische "Bewegung" zerstreut die Zerstreuungen

Die beiden Protagonisten, Guido Kleineidam und Sophie Berner, machen ihre Sache recht gut. Berner spielt mit einschmeichelndem, sinnlichem Charme, zeigt aber auch die erfolgsgierige Frau, die, wenn nicht gerade die Liebe dazwischenkommt, über Leichen zu gehen vermag. Kleineidam stellt zum Glück einen Intellektuellen dar, der nicht zu sehr im Partyrausch verglüht und stellenweise reflektiert. Problematischer wird es bei den noch geistig flexiblen Altvorderen Regina Lemnitz und Uwe Dreves. Die Pensionswirtin Lemnitz willigt altmodisch zögerlich dem Heiratsantrag des Gemüsehändlers zu, ändert aber ruckartig ihre Haltung und Meinung, als sie den vehementen Druck der Armbinden spürt. Man ist ja deutsch und will weiterleben, und das geht bei der neuen "Bewegung" nicht sehr gut mit einem jüdischen Obsthändler. Und der? Er pocht auf seine Deutschtum, haut nicht rechtzeitig ab und wechselt nur den Queer-Ort Nollendorfplatz, von einer Ecke zur anderen. Etwas abgedroschen ist das schon, ein deutscher Jude, der aufs Beste hofft und glaubt, dass der – als harmlos eingestufte - faschistische Schrecken nur ein Strohfeuer ist. Ansonsten: Gute Musik und stellenweise schöne theatralische Einlagen, mit wohlkalkulierten gesanglichen Intervallen. Das Musical ist auch in den Nebenfiguren respektabel besetzt: Mario Krüger, wohlbekannt vom Friedrichshainer Kriminal Theater, legt einen Matrosen hin, bei dem die Gesichtszüge fast zu gut sitzen und der auch hervorragend mit dem Publikum kontaktieren kann. Und dazu eine Sophie Berner, die trotz minimaler Ausfälle brilliert. – Der Kritiker ist nicht unbedingt ein Musical-Freund. Aber das war ein angenehmer Abend.

TIPI am Kanzleramt

Regie und Choreographie: Vincent Paterson

Musikalische Leitung: Adam Benzwi

Buch von Joe Masteroff - Nach dem Stück "Ich bin eine Kamera" von

John van Druten und nach den Erzählungen von Christopher Isherwood

Musik von John Kander - Gesangstexte von Fred Ebb - Deutsch von

Robert Gilbert - Bühnenbild: Momme Röhrbein

Aufführung vom 12. August 2016

 

Laden ...
Fehler!