(Bild: © Nationaltheater Reinickendorf)

Stahlwerksinfonie und 80er-Jahre

Schnell kommt die Vermutung auf, Vinge/Müller seien in den roaring 80er-Jahren hängengeblieben. Im Foyer sind die kompletten Fußballer der WM 82 abgebildet, und es werden sogar Bildungslücken geschlossen: Honduras war auch dabei. Einige Zuschauer lächeln, Honduras! Auf einer Empore trommelt eine Frau die Blechtrommel, ein kompatible Nachbildung, Oskar Mazerath lässt grüßen. Während der Blick noch auf einem teilweise ineinandergreifenden Räderwerk haftenbleibt, werden auch schon die Tischtennis-Bälle mit den Sitzplatznummern verteilt, die später ohnehin keine Rolle mehr spielen. Mit im Boot: Milan Peschel als "irgendwie" Beteiligter, in einer kuriosen Vermischung von gesteigertem Privatinteresse und Selbstausbeutung. Bescheid weiß niemand über die Honorare der aus Idealismus aktiven und eher passiven Teammitglieder, und das sind eine ganze Menge. Diesmal hat man es eilig, es gibt keine Sektdusche und man wird rasch ins Parkett geschleust, wo die Reihen hörsaalmäßig angeordnet sind. Es ertönt eine Stahlwerksinfonie, Musik wie Hammerschläge. Das Interieur auf einem Seitenvideo: Auf dem Boden schwarz-weiße Karos, ganz 80er-Jahre New Wave, dazu etliche deutliche Hinweise auf Bands wie Depeche Mode und Joy Division. Auf einer Box vor der Bühne eine Hand mit erhobenem Dirigentenstab, der bei allem Bühnengeschehen zu sehen ist.

 

© Nationaltheater Reinickendorf

 

 

 

Geschmäcklerisches Ekeltheater

Es ist dies kein Bestätigungstheater, das die Alltagserfahrungen bekräftigt und einen innerlich klatschen lässt: Das kennen wir, genau so ist es! In diesem hemmungslosen Grenzenlosigkeitstheater wird alles scheinbar Zementierte über Bord geworfen. Der Himmel ist entrümpelt, für Vinge gibt es nur noch Fußball und ein vorgestellter Gottesersatz. Und er bietet eine breite Palette des sexistischen Ekeltheaters, in dem beispielsweise eine blutüberströmte Frau sich selbst zerfleischt und ein Baby gebiert. Und es ist rabiat, ja brutal: Ein Mann versucht ein künstliches Gebiss zu trinken, trinkt aber nur das Wasser und wird von einer Alten zertrampelt, gegen die Wand gehauen, bis der Kopf im Sahnekuchen versinkt. Exaltierte Onanie wird obsessiv und beinahe naturgemäß zelebriert. Ein Mann pinkelt mit erigiertem Glied in den After einer milchfarbenen Frau, ein andermal spritzt er sein Sperma-Blut auf eine plastiküberzogene Muschi. Dazu ein abgründiger Wunsch einiger Hamlet-Freunde: Ophelia wird gefesselt und, eine frontale Vagina-Ansicht anbietend, gehauen und noch von einem Chor gedemütigt: Ihr seid ein dummes Ding! Dann kommt eine Henkermaschine, eine Guillotine, an der Robespierre seine Freude gehabt hätte. Barbusige Frauen treten hoch und selbstgebastelte Köpfe rollen, auf dem Boden liegt ein blutverschmiertes Arsenal. Ein heruntergelassener Transparentvorhang wird mühsam geputzt, scheinbar endlos. "Radio Reinickendorf" nutzt die Gelegenheit, um eine Pause anzukündigen, in der es draußen Freibier geben soll. Als viele Zuschauer*innen der Aufforderung folgen und nach draußen strömen, wird die Freibier-Offensive dementiert. Klügere bleiben sitzen, haha, wir kennen sie, die Unterlaufer der Erwartungen. Es gibt auch keine Pause, stattdessen werden Schallplatten verteilt. Manch einer ist jetzt stolzer Besitzer von "Hamlet-Psycho. The Musical". In zehn Jahren kann man die Platte für 200 Euro an enthusiastische Insider verhökern. Scheiß auf G20-Hamburg, es lebe der Kapitalismus.

 

Ein heimlicher Castorf-Triumph

Irgendwann gehen die verzerrte männliche Bassstimme und die weibliche Mickey-Mouse-Sprache etwas auf die Nerven, ganz im Sinne der Maestros. Die Überstrapazierung ist Programm. Zum Glück ist kein Verzehr eigener Fäkalien zu beobachten, aber wahrscheinlich nur, weil der erholungsbedürftige Berichterstatter zum Imbiss ging, um sich angesichts einiger fragwürdiger Burger-Varianten die noch genießbaren Pommes einzuverleiben. Oh die vielen Verweise, Oskar Schlemmer und Schlingensief etwa. Ein kleines Kettensägenmassaker wird inszeniert, die Gedanken sind plötzlich bei Volker Spengler. Und weiter mit Heiner Müllers Auftrag und "Mach weiter, Sollness": Der durchtriebene, karrieresüchtige Baumeister macht es. Die Existentialisten Sartre und Heidegger neben den Sex Pistols, eine kleine Zeitverschiebung, bis zurück zum Jahr 1974, als Cassius Clay alias Muhammad Ali den Jahrhunderboxkampf gegen den Herausforderer Foreman in Zaire (heute Demokratische Republik Kongo) gewann. Im Grunde ist die Veranstaltung ein einziger Trip, angefüllt mit Traum-Sequenzen und zahlreichen Busenversionen ohne Busenwunder, ein Trip, den man durch – natürlich zufällig geschenktes – Weed erweitern kann. Selbstverständlich wollen die Gastgeber auch ein wenig quälen, vielleicht durch Arien von Bernardo (Kuczer?). Irgendwann taucht ein domestiziertes Bio-Paradies auf, mit Pflanzen und zwei Kunstfiguren, weit entfernt von der wild wuchernden südamerikanischen Pampa. Ein Mann mit Nazi-Binde erscheint auf der Bildfläche und fällt allmählich alle Bäume, um die Natur statt Juden zu enteignen. Wie man hört, hegen Vinge/Müller eine Art Hass-Liebe zu Castorf. Nach einem sinnlosen Eier-Zermantschen tauchen Gestalten in Volksbühnen-T-Shirts auf. Das Unternehmen: Die Volksbühne ausbrennen. Starke Szenen entstehen wie aus dem Nichts. Bedauerlicherweise sind die Rezeptionskräfte fast erloschen. Bei einer Peymann-Inszenierung von neunstündiger Dauer hätte man eine Ladung Valium 30 mit Einschlafgarantie abbekommen. Hier reicht es aufgrund des Gequäkes, Gebrülles und all der Halbkopulationen nur zu einem Halbschlummer mit widerwillig gespitzten Ohren. Gelegentlich hat man Castorf als Grenzüberschreiter beschrieben, doch gegen die Überforderungen von Vinge/Müller ist er ein harmloser Kerl. Immerhin weiß der Zermalmer und Wiederaufbauer Castorf, wo es das Maß zu halten gilt, um dem Publikum nicht ins Konzept passende, überflüssige Zumutungen zu ersparen. Bei Vinge/Müller und ihrem Team wird eine überbordende, unsensible Überfülle präsentiert, die weder Maß noch Regeln kennt und sich verschwenderisch ergießen möchte, ohne Rücksicht auf Verluste. Ein Zuviel erzeugt das Gegenteil dessen, was man erreichen möchte. Vielleicht ist diese Inszenierung ein heimlicher, sublimer Triumph für Castorf.

 

Nationaltheater Reinickendorf
Von Vegard Vinge/Ida Müller

Von und mit: Etwa 50 hochengagierte Schauspieler*innen und Mitarbeiter*innen.

Premiere war am 6. Juli, Kritik vom 8. Juli.

Produktion Vinge/Müller & Berliner Festspiele, Immersion

Dauer: ca. 12 Stunden

 

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