Ich will andererseits nicht verhehlen, dass es auf Haiti beispielsweise alles andere als paradiesisch zugeht. Oder in Kunduz. Ganz zu schweigen von Passau, wo die Donau in schöner Regelmäßigkeit aus ihrem Bett hinüber in die Altstadt tritt. Das ist nicht paradiesisch, beileibe nicht, das ist eher, um im Bild zu bleiben, alttestamentarisch.

Zeigefreudig
Nein, wir befinden uns deshalb in paradiesischen Zuständen, weil wir allesamt (du da und du und auch du da hinten) nackend herumlaufen. Wie damals im Paradies. Und wir sind glücklich dabei. Fließen förmlich über vor Freude: Wir zeigen, was wir haben! Oder auch nicht haben. Vollkommen egal, Hauptsache, wir können es zeigen. Ja, genau: zeigefreudig sind wir geworden. Wir lassen die ganze Welt wissen, was gerade bei uns anliegt. Oder auch nicht anliegt. Wir verbreiten uns über Facebook und wie sie alle heißen. Jede noch so kleine Winzigkeit unseres ach! so bedeutsamen Lebens wird umgewandelt in Smileys, aufgeplustert mit Smartphone-Bildchen und weggeschickt mit Lichtgeschwindigkeit.

Und als ob es nicht genug wäre, verfassen wir nun "offene Briefe". Was ja, wo doch sowieso alles offen daliegt, eine Tautologie ist, also dasselbe meint: Wenn wir Briefe schreiben, sind die mittlerweile von Hause aus offen. Und Hand aufs Herz: Wer beherrscht sie denn heute noch, die Kunst des Briefeschreibens? Du etwa? Bist du dir da sicher? Kannst du wirklich noch über ein, zwei oder mehr Seiten Gedanken formulieren, die einzig und allein einem Adressaten gelten?
Ups, hast du's gelesen? Jetzt hab' ich's benutzt, das Unwort: einem Adressaten. Also nicht nur "der Welt", was ja auch irgendwie ein Adressat wäre. Ich meine jetzt: ein einziger Mensch. Deine Mama zum Beispiel. Oder Angela Merkel. Wobei das mit Angela, das wär' ja blöd, weil's niemand lesen würde außer Angela.

Altmodisch
Oje. Jetzt bin ich aber ganz schön ins Schwadronieren gekommen. Und alles nur, weil ich bei "offenem Brief" an "offenes Hosentürl" denken muss. Da steht man auch blank da und jeder feixt sich eins. Und denkt sich: Hat's das jetzt sein müssen? "Offen", das hat meiner Meinung nach gar keinen Wert mehr, weil eh alles offen ist. Hab‘ ich schon gesagt, gell? Aber der Sigi sagt das auch. Der Sigi, das ist mein Kumpel. Neulich, da sind wir im "Mooswirt" gesessen, und der Sigi hat überlegt, ob er der Vroni jetzt einen Heiratsantrag machen soll im Kino, so wie das modern geworden ist mit Werbung und Popcorn, und dann taucht der Bräutigam auf mit den Rosen in der Hand und den Flecken im Gesicht und fragt vor vierhundert Leuten "willst du".

Dann hat der Sigi mich aber angeschaut und gesagt, dass das ja eigentlich gar niemanden was angeht. Und ist nach Hause gefahren. Nicht mal seine dritte Halbe hat er getrunken. Und zu Hause hat er sich hingesetzt und ein Herz gemalt und das Herz mit zwei Ringen gepierct und hat's in ein Kuvert gesteckt und an die Vroni geschickt. Und dann ist er wieder gekommen und hat einen großen Schluck von seiner dritten Halben genommen.

”Und", hab ich ihn gefragt. "Was hast ihr geschrieben?" Da hat der Sigi mich angeschaut und gesagt: "Zwei Wörter."

Und da haben wir uns noch eine Halbe bestellt und ich hab so bei mir gedacht, dass der geschlossene Brief vielleicht doch wieder …

Und das wollte ich dir mal schreiben. In einem offenen Brief natürlich, damit's dich auch wirklich erreicht. Wo du doch immer im Facebook bist.

jofl, am 22.05.2013
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Bildquelle:
Karin Scherbart (Sudoku einfach lösen - Varianten für Anfänger, Fortgeschrittene und...)

Autor seit 13 Jahren
122 Seiten
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