Ein ziemlich kluger Mann sagte einmal: "Der Wahnsinn trägt ganz gewöhnliche Kleidung."

Ich hab nie so richtig begriffen, was er damit meinte. Bis zu diesem Tag, diesem eigentlich ganz gewöhnlichen Tag, an dem mein Wecker klingelte. Wie immer. Doch an diesem Morgen war etwas anders. Ich konnte die Schlummertaste nicht benutzen.

 

Ich mache mein Handy eigentlich nie aus. Ich, weiß, das ist nicht gut, hin und wieder sollte man das tun. Ein Handy sei wie ein Computer, der regelmäßig heruntergefahren werden müsse, sagte mal ein Techniker zu mir. Das war übrigens nicht der Typ, der meinte, der Wahnsinn würde gewöhnliche Kleidung tragen. Aber auch ein kluger Mann, keine Frage.

Ich mache mein Handy trotzdem nie aus. Außer am diesem Morgen, als die Weckfunktion ertönte. Wie immer, wenn dieses grauenhafte Geräusch erklang, war ich innerhalb von Sekunden wach. Ich habe zum Wecken einen Klingelton gewählt, der so dermaßen penetrant ist, dass es schier unmöglich ist, davon nicht wach zu werden. Hinzu kommt diese raffinierte Variante, dass das Geräusch immer lauter wird. Die Option nennt sich "Klingelton ansteigend", und genau das passierte an diesem Morgen.

Um 06.10 Uhr Mitteleuropäischer Zeit sprang der Wecker an. Um 06.10 Uhr und 9 Sekunden betätigte ich die Schlummertaste. Um 06.10 Uhr und 12 Sekunden wurde der Klingelton lauter. Ich drückte zum wiederholten Maße die Schlummertaste. Der Klingelton wurde stetig lauter. An Schlummern war nicht zu denken, das Handy ignorierte meinen Befehl mit maßloser Arroganz. Das Ganze nahm recht schnell erschreckende Ausmaße an. Immer lauter klingelte das Handy, immer verzweifelte drückte ich diverse Tasten, um diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Zum Schluss war ich der Meinung, dass nur der Druck auf die "Aus-Taste" Rettung bringen würde. Doch auch das bewirkte rein gar nichts. Das Handy war mittlerweile so laut, dass ganz sicher niemand im Haus mehr schlafen würde. Also tat ich, was man tun muss in einer solchen Situation des technischen Ausnahmezustandes. Ich öffnete das Gerät und entfernte den Akku. Damit war endlich Ruhe. Aber der Tag hatte ja gerade erst begonnen.

 

Noch zwei Versuche möglich

 

Nachdem ich Kaffee gekocht hatte, beschloss ich, diesen merkwürdigen Vorfall zu ignorieren und meinen Tag wie üblich zu beginnen. Ich nahm mein Handy in die Hand und wusste in diesem Moment, dass das Vorhaben nicht glücken konnte. Denn ich wurde aufgefordert, meine PIN einzugeben. Das hatte ich gefühlt das letzte Mal vor rund 800 Jahren gemacht, daher hatte ich verständlicherweise Schwierigkeiten, mich an den vierstelligen Code zu erinnern.

Ich dachte nach. Kramte in den Windungen meines Hirns. Dann fiel sie mir ein, die PIN. Schnell tippte ich "6751" in das Feld. Das Ergebnis: Falsche PIN-Eingabe. Noch zwei Versuche.

Ich hätte schwören können, das sei die richtige PIN gewesen. Weiteres Sinnieren, der nächste Versuch: 7651.

Auch nicht. Ok, ruhig bleiben, nochmal in mich gehen. Nachdenken. Ich war mir ziemlich sicher, dass vorn die "67" stehen musste. Das ist mein Geburtsjahr, und auf diese Weise hatte ich mir damals -vor rund 800 Jahren- die Geheimzahl gemerkt. Moment, oder war es umgekehrt? Hatte ich mir statt dessen die "76" gemerkt? Dem Motto folgend: Das ist mein Geburtsjahr, nur umgekehrt. Könnte sein. Aber die "51" stimmte auf jeden Fall. Ganz sicher. Glaubte ich. Ich wusste genau, dass die "51" ganz bestimmt möglicherweise unter Umständen eventuell wahrscheinlich korrekt war. Aber das konnte nicht sein. Schließlich hatte ich die "76" und die "67" probiert, was zweimal zum Scheitern geführt hatte.

Und dann, ganz plötzlich kam die Erkenntnis. Sie war wie ein warmer Sonnenstrahl, der einem völlig verregneten und kalten Tag einen neuen Glanz gibt. Ich lächelte siegesgewiss und tippte nunmehr endlich die richtige PIN ein.

Auf dem Display erschien: Sie haben dreimal die falsche PIN angegeben. Bitte wenden Sie sich an Ihren Mobilfunkanbieter.

Das konnte nicht sein. Irgendwie.

Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, die Telefonnummer meines Handyanbieters zu suchen. Als ich sie endlich gefunden hatte, nahm ich mein Festnetztelefon in die Hand und wählte. Eine freundliche Damenstimme erläuterte mir: "Guten Tag, leider rufen Sie außerhalb der Geschäftszeiten an. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal. Wir freuen uns sehr, dass Sie..."

Ich legte auf. Trank noch einen Kaffee. Dann noch einen. Und noch einen. Schließlich war es soweit. Ich wählte erneut die Nummer der Hotline.

 

Nicht verstanden. Leider

 

Wenn man Service-Hotlines anruft, spricht man zunächst nicht mit Menschen. Das ist ein völlig normaler Vorgang, an den ich mich längst gewöhnt habe. Doch an diesem Morgen störte mich dieser Umstand irgendwie doch. Die Stimme war freundlich, aber meine Laune war nicht die allerbeste. Und so konnte die blechern-nette Automatenstimme nicht dazu beitragen, dass meine Stimmung stieg.

"Guten Tag, schön, dass Sie uns anrufen. Wenn Sie eine Frage zu Ihrer Rechnung haben, drücken Sie die '1'. Wenn Sie technische Probleme haben, drücken Sie die '2'. Wenn Sie Fragen zu Ihrem Vertrag haben, drücken Sie die '3'."

Ich drückte die '2'. Das schien mir logisch. Als nächste wollte die Stimme etwas wissen, das ein weiteres Problem zur Folge hatte: "Bitte nennen Sie jetzt Ihre Kundennummer."

"Meine Kundennummer?" sagte ich.

"Ich habe Sie leider nicht verstanden", informierte mich Miss Blechern.

"Schon klar", sagte ich.

"Ich habe Sie leider noch immer nicht verstanden. Bitte nennen Sie mir jetzt Ihre Kundennummer. Wenn Sie Ihre Kundennummer nicht zur Hand haben, bleiben Sie einfach in der Leitung."

Na, das war doch mal Service! Ich atmete durch und blieb in der Leitung. Kurz zeit später war sie wieder da, diese Stimme, die mir bereits vertraut vorkam.

Sie sagte: "Wie war der Name Ihres Lehrers in der ersten Klasse?"

"Wie bitte?" entfuhr es mir, aber das wollte die Automaten-Lady nicht hören.

"Das ist nicht die korrekte Antwort auf Ihre Sicherheitsfrage. Bitte nennen Sie jetzt die richtige Antwort."

"Lechleitner" sagte ich, ziemlich sicher, dass ich diesen Namen irgendwann einmal irgendwo angegebenen haben musste.

"Das ist nicht die korrekte Antwort auf Ihre Sicherheitsfrage. Sie haben noch einen Versuch, dann wird das Gespräch beendet."

Ich hielt mich zurück, sagte erst einmal nichts. Jeden ausgestoßenen Fluch -und mir lagen einige auf den Lippen- würde Madame Stahlstimme wieder als falsche Antwort werten, das Gespräch wäre beendet, bevor es überhaupt begonnen hatte.

"Zimmermann?" fragte ich vorsichtig. Das war falsch, ganz bestimmt. 

"Vielen Dank, Sie werden gleich mit einem Mitarbeiter verbunden."

Plötzlich sah ich Steine. Viele Steine. Sie alle fielen. Und zwar mir vom Herzen.

 

Der Mitarbeiter

 

Der Mitarbeiter, der sich geschlagenen 9 Minuten später meldete, war sehr nett.

"Guten Tag, mein Name ist Siebers, was kann ich für Sie tun?"

"Ja, guten Morgen, Wolf ist mein Name..."

"Wie der Wolf?" fragte der Mitarbeiter.

"Nein, wie der Langhaardackel", antwortete ich, mir war nicht nach Wortspielen.

Herr Siebers war verwirrt. "Langhaardackel? Ich verstehe nicht..."

"Schon gut", sagte ich, "wie der Wolf ist schon richtig."

Ahhh, Sie haben Spaß gemacht, Herr Wolf. Es ist schön, dass Ihnen die gute Laune noch nicht verloren gegangen ist."

Eigentlich war sie das längst, aber ich hatte nicht vor, das zu vertiefen.

"Meine PIN, ich hab sie vergessen. Was machen wir jetzt?" kam ich gleich zur Sache.

"Sie haben also Ihre PIN vergessen."

War ich in den Bergen und kommunizierte mit meinem Echo oder was sollte das hier?

"Richtig", sagte ich. "Ich habe meine PIN vergessen."

"Haben Sie Ihr Handy ausgeschaltet?" fragte Herr Siebers.

"Ja", antwortete ich, "natürlich."

"Und warum?"

"Wie bitte?" Jetzt war ich es, der verwirrt war.

Herr Siebers hatte offenbar mitgedacht. "Na ja, wenn Sie Ihre PIN nicht mehr wissen, warum schalten Sie dann Ihr Handy aus? Ich frag mich das nur so."

Er fragte sich das nur so, aha!

Wunderbar! Prima! Ich hatte es mit einem Menschen zu tun, der eigenständige Gedanken hatte. Aber genau das wollte ich eigentlich nicht. Ich wollte, dass mein Handy wieder funktionierte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ich erklärte es ihm trotzdem.

"Als mein Wecker heute ansprang, reagierte das Handy nicht, ich konnte es nicht ausschalten."

"Oh", sagte Siebers.

"Ja. Ich musste dann den Akku herausnehmen. Und dann später den PIN eingeben."

"Ah so, verstehe", kommentierte der Mitarbeiter, der jetzt nachdenklich wirkte.

"Schön" fuhr ich fort, "und was können wir jetzt tun?"

"Sie sollten mit der Technik sprechen" erwiderte Siebers.

"Aber ich bin doch bei der Technik!" sagte ich.

"Nein, Sie sind in der Rechnungsabteilung, Herr Wolf. Ich kann Ihnen leider nicht helfen."

Hätte Herr Siebers das nicht gleich sagen können? Und überhaupt: Ich hatte doch ganz eindeutig die '2' gedrückt, warum war ich jetzt in der Rechnungsabteilung? Herr Siebers wusste es auch nicht. Leider.

"Tut mir sehr leid, aber ich kann Ihnen die Nummer von der Technik geben."

"Ja", sagte ich zähneknirschend, "tun Sie das bitte."

Nachdem Herr Siebers mir die Nummer genannt hatte, sagte ich: "Aber das ist die Nummer, die ich eben angerufen habe!"

"Hmmm, komisch", sagte Siebers, "dann sind Sie vielleicht irgendwo falsch abgebogen."

Ich hörte ein Lächeln, das mich wohl aufbauen sollte.

"Ja, das bin ich dann wohl", schloss ich. "Dann erstmal vielen Dank."

"Gern, Herr Wolf, kann ich sonst noch etwas für Sie tun?"

"Aber Sie haben doch noch gar nichts für mich getan."

"Haha, da haben Sie auch wieder recht", lachte Siebers. Er war wirklich ein richtig lustiger Mensch.

Eine weitere Stunde später wusste ich endlich, was ich wissen musste. Nämlich, dass die Telefon-Hotline mir nicht helfen konnte. Ich musste in einen Telefonladen gehen, meinen Personalausweis vorzeigen und bekam dann in einem geheimen Umschlag eine neue PIN.

"Sie können", sagte mir der Mitarbeiter des Telefonladens in Zukunft übrigens auch alle Probleme bequem online lösen.

"Tatsächlich?" sagte ich. "Das ist gut. Bekomme ich dafür irgendwelche Zugangsdaten, oder wie genau funktioniert das?

"Nein, nein", lachte der Mitarbeiter. Stimmungskanone Nummer zwei an diesem Tag.

"Nein, das ist viel einfacher. Sie brauchen dafür einfach nur Ihre PIN."

Na dann.

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