Die Beliebigkeit, die in den Künsten so enorme Blüten treibt, die Tatsache, dass alles als Kunst und jeder als Künstler definiert werden kann, führt derzeit dazu, dass dieser Begriff sich in seiner Bedeutung auflöst und obsolet wird.
Vielleicht ist die Idee von Kunst, wie sie sich seit der griechischen Antike im Abendland entwickelt hat eine Idee, die sich überlebt hat. Vielleicht haben sich auch neue Arten von Kunst parallel eine Existenzberechtigung aufgebaut. Dies mag eine folgerichtige Entwicklung sein und selbstver- ständlich gibt es auch innerhalb dieser Entwicklung ernsthaft arbeitende Künstler, die eine klare Absicht, eine klare Vorstellung von dem haben, was sie vermitteln wollen und auch in der Lage sind, dies umzusetzen. Doch in jedem Fall sollte man redlich genug sein zu wissen, was man tut und warum, und nicht von Kunstwerken sprechen, wenn es sich nur um persönliche Spielereien, Gedankenexperimente oder illustrierte Konzepte handelt.
Der Entstehung von Dada, Konzeptkunst, Arte povera, Klangkunst und anderen Strömungen im 20. Jahrhundert lagen philosophische bzw. ästhetische Ideen zugrunde, die diese Kunst getragen haben und zu teilweise beeindruckenden Ergebnissen führten, aber wieder ist es eine Frage des bewussten Einsatzes der Mittel. Wenn das Konzept eigenständiger Teil eines Kunstwerks bleibt und dies, da bereits hinter dieser Tatsache eine bewusste Aussage steht, auch stimmig ist, hat das selbstverständlich seine Berechtigung.
Wenn man aber nur die äußere Form dieser Kunst weiterführt, den Stil kopiert, ohne die Sprache verstanden zu haben, wird es eben sinnentleert und beliebig. Es funktioniert nicht, Bilder im Stil Hieronymus Boschʻs malen zu wollen, wenn man seinen historischen und religiösen Hintergrund, seine Symbolsprache und seinen narrativ eingesetzten geometrisch-formalen Bildaufbau nurmehr kennt (oder noch nicht einmal das), nicht aber aus sich selbst heraus realisiert hat, als raison dʻêtre, als Triebfeder für die eigene künstlerische Arbeit bereits mitbringt. Ebenso kann man nicht die Ästhetik von  Joseph Beuys fortführen und deren Verankerung in seinem sozio- politischen Denken und Streben, die ihr zugrunde liegenden erzieherischen Idee ignorieren oder jene von John Cage kopieren, ohne aus eigener Anschauung zu seiner philosophischen Weltsicht durchgedrungen zu sein. Dies gilt für jede Art von künstlerischem Epigonentum: es hieße, eine Sprache nachzuplappern wie ein Papagei, ohne sie wirklich zu verstehen.

Wenn der Künstler ernsthaft arbeiten will, d.h. jenseits von kommerzieller Marktspekulation, intellektueller Sebstbespiegelung oder dem Getriebensein nach Sensation um ihrer selbst willen, sollte er sich bewusst sein, dass die spezifisch der Kunst gegebene Möglichkeit der Erfahrungs-Vermittlung auch Verantwortung mit sich bringt. Den Menschen in Kontakt zu bringen mit tieferen - oder höheren -, ja auch verschütteten oder verborgenen Bereichen seines Daseins, emotionalen, sinnlichen und geistigen, ja auch geistlichen, ist seit je her eine Fähigkeit der Kunst, mithin eine, die in heutiger Zeit manchmal vergessen scheint.
Dass diese Erlebnisfähigkeit erlernbar ist steht außer Frage. Über den Wert dieses Prozesses schreibt Marx: "Erst durch den gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens wird der Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit, wird ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit der Form, kurzum, werden erst menschlicher Genüsse fähige Sinne, Sinne, welche als menschliche Wesenskräfte sich bestätigen, teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt. ... der menschliche Sinn, die Menschlichkeit der Sinne wird erst durch das Dasein eines Gegenstandes...."(1) Marx beschränkt sich in dieser Darstellung auf die Sinne, doch diese Fähigkeit zur Herausbildung von Wahrnehmungskompetenzen erstreckt sich selbstverständlich darüber hinaus auch auf die Gebiete des Geistes und des Herzens, d.h. Intellekt, Spiritualität, zwischenmenschlichen Harmoniesinn und das gesamte Feld der sogenannten Herzensbildung..

In der griechischen Antike wusste man bereits, dass diese Faktoren nicht zu trennen sind. Schönheit und Tugend galten in der ästhetischen Erziehung als gleichermaßen notwendig, ja die Beschäftigung mit dem Schönen an sich galt als moralische Notwendigkeit. Im Mittelalter galt die Schönheit der Kunst als Weg zur spirituellen Öffnung und Erziehung des Menschen. Durch die Erfahrung der größtmöglichen irdischen Schönheit, verkörpert durch vollkommene Harmonie (auch mathematischer Art) sollte der Mensch auf kontemplative Weise für die Erfahrung der göttlichen Schönheit vorbereitet werden. In diesem Sinne bedeutet Schönheit im mittelalterlichen Sinne z.B. bei Thomas von Aquin auch Wissen um die (göttliche) Ordnung des Seins.(2) In der Renaissance galt, in Anlehnung an die Antike, das Ideal einer Bildung, die nach äußerer (ästhetischer) und innerer (tugendhafter) Vollkommenheit strebt. Dabei hatte in vielen antiken Kulturen die Musik innerhalb der Künste eine Sonderstellung inne. Im antiken Indien hatte die Musik religiösen, kontemplativen und magischen Charakter. Sie galt als Verbindung zum höchsten Göttlichen, als Mittel, das menschliche Bewusstsein dieser Ebene anzunähern, als energetische Brücke zu den die sichtbare Welt bildenden Elementen und als heilende Kraft. In den Sieben Freien Künsten (septem artes liberales) der griechischen Antike sowie des Mittelalters und der Renaissance war die Musik dem höher stehenden Quadrivium zugeordnet, zu dem neben der Musik Arithmetik, Geometrie und Astrologie gehörten, während zum basalen Trivium Grammatik, Rhetorik und Logik gehörten. Die Aufgabe der Musik lag also nicht auf dem Gebiet der subjektiven Gefühligkeit sondern in der Geistesschulung zum Zwecke höherer Erkenntnis. Für Luther waren Musik und Schrift menschliche Tätigkeiten, durch die Gott erfahrbar wird. Mit der Aufklärung erst wird die Selbsterfahrung des Individuums stärker in den Vordergrund gerückt, was in späterer Entwicklung letztlich dazu führte, die sinnliche und emotionale Erfahrung von Kunst, das "Überwältigtwerden", von ihren anderen, den geistigen, geistlichen und wertebildenden Qualitäten mehr und mehr abzulösen.
Die Aufgabe und Fähigkeit der Kunst zur "Erziehung" unserer Sinne, unseres Geistes, unserer Spiritualität und unseres Umgangs mit Gefühlen wie sie in den antiken Hochkulturen und von vielen großen Philosophen erkannt wurde darf umgekehrt natürlich nicht dazu führen, sie zum reinen Erziehungsmittel zu degradieren, denn dies hieße, sie ihrer anderen Seite, der rein ästhetischen, zu berauben. Rudolf Arnheim hatte Recht, als er schrieb, das Urphänomen der Kunst sei "nach wie vor die primitive sinnliche Freude an einem fetten Klecks Farbe und einem vollen Celloton."(3) Doch wer glaubt, er rede hier einer wilden, "handwerksverachtenden" Schein-Expressivität die Zunge, irrt ebenso wie jener, der den Künstler dadurch jeglicher Verantwortung enthoben sieht. Auch ein fetter Klecks Farbe erzeugt diese sinnliche Freude nur, wenn er richtig platziert ist, einen vollen Celloton gar bringt man erst nach vielen Stunden des Übens heraus, - und gerade aus dieser Stärke der Kunst, direkt über die Sinne zu wirken, Freude oder andere Regungen zu evozieren, den Menschen zu bewegen, erwächst die Verantwortung des Künstlers.
Diese zu negieren öffnet zum Einen vollständiger Beliebigkeit Tür und Tor und ermöglicht es zum Anderen gerade jenen, die die Kunst als reines "Erziehungsmittel" missbrauchen, sie also agitativ einsetzen (sei es mit ideologischen, politischen oder kommerziellen Zielen), sich um so ungehinderter ihrer suggestiven Kraft zu bedienen, da deren Wirkung nicht ernst genommen wird.
Politische Systeme und wirtschaftliche Interessengruppen wissen sehr wohl um die meinungs-, geist- und herzbildenden Möglichkeiten der Kunst und um die Möglichkeiten der Manipulation durch Steuerung sinnlichen Erlebens. Bereits Konrad Lorenz hat eindrucksvoll auf die Parallelität von politischer und kommerzieller Indoktrinierung durch Ideologie und Werbung hingewiesen.(4) Steht diesen Kräften nicht ein ebenfalls starkes Bewusstsein unabhängig schaffender, menschlich wertorientierter Künstler entgegen, kann dies die denkbar unheilsamsten Folgen haben, wie aus der Menschheitsgeschichte, gerade auch der jüngeren, klar ersichtlich ist.

 

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