Nordische Kindheit

Geboren wurde Lie am 6.11.1833 in Eker in Südnorwegen, wuchs aber im Norden, in Tromsø, auf, wo der Vater von 1838-1845 als Stadtrichter eingesetzt war. Schon der Großvater Lies war ein erfolgreicher, gewissenhafter und beliebter Beamter gewesen. Als Lies Sohn Erik 1933 eine "Lebensschilderung" seines Vaters herausbrachte, konnte er noch schreiben, dass der Großvater das beste juristische Examen aller Zeiten abgelegt hatte. Die Herkunft seiner Mutter brachte Jonas Lie selbst dazu, über sich zu sagen, er habe "Finnblut" in sich, hätte lappische Vorfahren.

Bei Jonas Lie werden gerne zwei Seiten diagnostiziert, die eine sei die realistische, die andere die mystische, spirituelle Seite. Dabei gibt es den Versuch, diese zwei Seiten auf die Herkunft zurückzuführen, hier die realitätsnahe, väterliche Abstammungslinie, dort die phantasievoll ausgerichtete mütterliche Linie. Doch die Wirklichkeit sieht natürlich weniger einfach aus. Über den Vater wird berichtet, dass er sein Amt nicht nur gewissenhaft, sondern auch mit sehr viel Einfühlungsvermögen ausübte, mit dem er sich in die Menschen, über die er zu urteilen oder zu berichten hatte, hineinversetzte. Die Mutter hingegen sprühte nicht nur vor Phantasie, sondern war auch sehr gebildet, nicht nur in den Sprachen, sondern auch den wirklichkeitsnahen Naturwissenschaften.

Jonas Lie (Bild: Wikimedia Commons)

Jonas Lie (Bild: Wikimedia Commons)

Ein schlechter Schüler

Jonas Lie war in seiner Kindheit und Jugend Büchern und Lernen nicht sonderlich zugeneigt, sondern interessierte sich mehr für die praktischen Dinge. Dabei war er aber kein so schlechter Schüler, wie oft berichtet wird, aber er war auf jeden Fall ein zerstreuter Schüler, der so oft abwesend war, dass es auffiel. Er kam einfach zu spät zur Schule, weil er dort stehenblieb und guckte, wo er etwas fand, das ihn interessierte und so die Schule einfach vergaß. Dass Lernen nicht seine Lieblingsbeschäftigung war, erkannten auch seine Eltern, also wurde versucht, aus ihm einen Seeoffizier zu machen, was aber letztlich an seiner Kurzsichtigkeit scheiterte, so dass er aufs Gymnasium wechselte.

Dass seine Phantasie sich auch sehr energiegeladen nach außen zeigen konnte, zeigt eine Anekdote aus seiner Seekadettenzeit, in der eines Abends der Kommandeurkapitän, bei dem Lie untergebracht war, einen Rundgang durch den Hafen machte und bemerkte, dass von einem der Kanonenboote seltsamer Lärm kam. Als er näher kam, entdeckte er jemanden, der auf Deck herumlief und laut schrie, was ihm äußerst verrückt vorkam. Er dachte schon daran, einen Arzt zu rufen, da erkannte er seinen Untermieter, der den norwegischen Seehelden Tordenskjold nachspielte.

Anschließend studierte Jonas Lie Jura. 1858 machte er sein Examen und heiratete seine Cousine Thomasine, mit der er seit 1853 verlobt war.

Anwaltstätigkeit und finanzieller Ruin

Nach einer ungeliebten Anstellung, die er sich schnell besorgt hatte, weil sein Vater ihn in der Hauptstadt besuchen wollte, machte er sich als Anwalt selbständig, siedelte sich im nordöstlich von Oslo gelegenen Kongsvinger an und stürzte sich in allerlei Geschäfte. Dort herrschte gerade ein großer, mit dem Holzhandel zusammenhängender Boom. Dabei war er nicht nur höchst aktiv im Geschäfts-, sondern auch im Gesellschaftsleben. Er war offensichtlich gut darin, den Leuten etwas zu erzählen, ihnen Hoffnung auf Gewinn zu machen, aber in Wirklichkeit hatte er keinen Überblick über das, was er da tat. An dem großen Schuldenberg zahlte er fast den ganzen Rest seines Lebens ab.

Und er hat es am Ende auch geschafft, alles zurückzuzahlen. Sein Stolz ließ nichts anderes zu, er wollte keinen Konkurs anmelden. Mit schlechtem Gewissen sagte er, die Leute hätten an ihn geglaubt. Dass das Zurückzahlen trotz seiner Berühmtheit und seiner Erfolge auch im Ausland so lange dauerte, lag daran, dass er fast keine Auslandstantiemen bekam, da Norwegen nicht der Berner Konvention über das Urheberrecht von 1886 beigetreten war. So halfen ihm die großen Auflagen z.B. in Deutschland überhaupt nicht.

Durchbruch mit „Der Geisterseher“

Doch die Pleite schob ihn endgültig auf die Dichterlaufbahn, mit der er schon länger geliebäugelt, auf die er aber immer etwas ängstlich verzichtet hatte zugunsten eines Brotberufs. Die Antwort seiner Frau auf die finanzielle Katastrophe war, sparsam zu leben und Schriftsteller zu werden. Seine Frau hatte ihn immer in seinen literarischen Wünschen bestärkt und es war für sie eine Enttäuschung gewesen, als er sich nach seinem Studium für eine Anstellung entschieden hatte.

1870 hatte er mit "Der Geisterseher", einer Erzählung über einen jungen Mann mit seherischen Fähigkeiten und über eine Liebe, die den Tod überdauert, mit 37 Jahren seinen späten Durchbruch. Die Erzählung ist in ihrer Handlung nicht autobiographisch, jedoch in ihrer spirituellen Thematik und dem Ort der Geschichte, Nordland. Diese Gegend, die mit ihrer Zeit ohne Sonne bzw. ohne Dunkelheit erwiesenermaßen einen Einfluss auf das Gemüt der dort lebenden Menschen hat, hatte gerade bei jemandem wie Lie, der dort aufwuchs, starke Eindrücke hinterlassen. Hinzu kommt Lies eigener Hang zum Mystischen. Er glaubte an Prophezeiungen, sah Beispiele hierfür in der eigenen Familie, hatte selbst Angst, jemanden zu hassen aus Angst, demjenigen könnte dann etwas geschehen.

Der Sohn Erik Lie erzählt zu diesem Thema eine Begebenheit über Jonas Lie, der 1893 zu einem Sommeraufenthalt bei Kristiansand war, und den bekannten Maler Sachsenring, der in der Nähe auf einer Insel in einer Hütte lebte und arbeitete. "Eines Morgens beim Frühstück erzählte Jonas Lie von einem Traum, den er gehabt hatte. Er hatte ein Feuer am Strand gesehen. Da war kein Brennholz mehr übrig und das Feuer war dabei auszugehen. Die Flammen leckten und flackerten blau hin und her. Zum Schluss waren da nur ein blauvioletter Feuermischmasch und einzelne Kohlen, die dabei waren auszugehen. ‚Ich bin sicher, da stimmt etwas nicht mit Sachsenring‘, sagte Lie. ‚Das Ganze war so sonderbar. Es war, als wenn jemand lag und stritt und kämpfte.‘ Einige Stunden später kam die Nachricht, dass Olaf Isaachsen verstorben war."

Mitternachtssonne Norwegen

Midnight Sun and Calm Reflections, Lofoten Islands, Arctic, Norway, Scandinavia (Bild: D H Webster)

Aurora Borealis (Northern Lights) Seen over a Snow Covered Road, Troms, North Norway, Scandinavia, (Bild: Neale Clark)

Boat and Mountains Reflected in ...

Boat and Mountains Reflected in Tranquil Water, Near Tromso, North Norway, Norway (Bild: David Lomax)

Politisches Engagement

Vor seinem literarischen Durchbruch, während seiner Anwaltstätigkeit hatte er auch erfolgreich im Journalismus gearbeitet, hatte sogar die Zeitung "Illustretet Nyhetsblad" ("Illustriertes Neuigkeitenblatt") besessen. Seine Artikel zeichneten sich durch intuitive Klarsichtigkeit aus, auch wenn er nicht die analytische Schärfe besaß, die nötig gewesen wäre, um politisch aktiv zu werden, wie manche es sich von ihm wünschten.

Jonas Lies Zeit war in Norwegen eine Zeit der politischen Auseinandersetzungen, die vor allem im Zusammenhang standen mit der Union mit Schweden und demokratischen Reformen in einem Staat, in dem der Beamtenstand, aus dem Lie ja selbst stammte, den größten Einfluss hatte.

Lie selbst wandelte sich vom eher konservativ denkenden Menschen zu einem, der u.a. mit dem Unterschichten-Roman "Lebenslänglich verurteilt" eindeutig Position bezog, wie es damals ja auch im Zusammenhang mit "dem Durchbruch der Moderne" des dänischen Literaturkritikers Georg Brandes gefordert wurde.

Doch hatte Lie eigentlich immer Kontakt zu beiden Seiten, den "fortschrittlichen" und den "konservativen" Kräften. Er hat nie einer Partei wirklich angehört, sondern nur seine Meinung gesagt. Und er wehrte sich gegen Vereinnahmungen. Als ihm der König, der ihn sehr schätzte, anbot, seine Schulden zu bezahlen, lehnte Lie auch auf Anraten seiner Frau ab, da er sich dann auf andere Art gebunden fühlen würde. Auch der Bruch mit Bjørnstjerne Bjørnson, dem es schwerfiel, andere Meinungen zu dulden, geht auf diese Geisteshaltung zurück.

Karte Union Norwegen/Schweden 1847

Karte Union Norwegen/Schweden 1847 (Bild: Wikimedia Commons)

Im Ausland

Dem Ziel der Bewahrung der Unabhängigkeit, dem Wunsch nicht in provinzielle, innenpolitische Grabenkämpfe verwickelt zu werden, dienten auch seine Auslandsaufenthalte, auch wenn seine ungeheuren Schulden hier eine ausschlaggebende Rolle spielten. Allerdings verbrachten auch Bjørnson und Ibsen sowie unzählige andere Künstler Skandinaviens einen Großteil ihres Lebens im Ausland. Doch wenige haben so kontinuierlich und so lange nicht in der Heimat gewohnt.

1875 versuchte er es nach drei Jahren Rom noch einmal mit Kristiania, doch begegnete ihm dort eine puritanische Provinzialität, die es ihm schwermachte. So musste er Feigenblätter an seinen griechischen Statuen befestigen.

Danach lebte er eine Zeit in Stuttgart, aber der wichtigste Auslandsort wurde Paris. Dort war er allerdings nicht integriert ins französische Kulturleben. Es war eine skandinavische Kolonie, die hier existierte und in der skandinavische Themen vorherrschend waren. Lie hatte durch seine Umgänglichkeit Kontakte mit Persönlichkeiten verschiedenster Art, darunter auch Strindberg.

Den Sommer verbrachte er auf Anraten Ibsens in Berchtesgaden. Dort entstanden in schöner, jährlicher Regelmäßigkeit 16 seiner Werke.

Henrik Ibsen (Bild: Wikimedia Commons)

Bjørnstjerne Bjørnson

Bjørnstjerne Bjørnson (Bild: Wikimedia Commons)

Norwegen als Thema

Jonas Lie schilderte in seinem Werk ganz Norwegen, sowohl im Hinblick auf die Geographie als auch auf die sozialen Schichten. Dabei halfen natürlich seine vielfältigen Erfahrungen. Überhaupt stammt der Haupteinfluss seines Werkes unverkennbar aus der Kindheit und der Zeit seines Geschäftslebens. Ganze Bücher lassen sich darauf zurückführen. "Die Töchter des Kommandeurs" (1886) ist ein Ergebnis seiner Einquartierung bei einem Offizier während seiner Zeit in der Seekadettenanstalt. Der Roman "Eine Ehe" (1887) hat seine Ursprünge in seinen eigenen Erfahrungen als Anwalt, Ehemann und gescheiterter Geschäftsmann in der Kongsvinger-Zeit.

Überhaupt sind Familie, Ehe und die damit zusammenhängende Stellung der Frau häufige Themen seiner Prosa. Dazu gehört auch "Wenn die Sonne untergeht". Aber diese Erzählung repräsentiert auch seine Entwicklung in der letzten Phase seiner dichterischen Laufbahn, in der er nicht nur zum spirituellen Themenkreis seines Debüts zurückkehrte.

Eine Entwicklung fand insofern statt, als dass er sich besonders für die dunklen Kräfte im Menschen zu interessieren begann. Dieser persönliche Wandel, der sich gut in die damalige Strömung der Neuromantik einfügt, begann 1890 mit dem Buch "Böse Mächte". Und so verstanden ist "Wenn die Sonne untergeht" ein außergewöhnlicher Eheroman. Was die Menschen hier antreibt, wird von ihnen selbst mitunter als höhere Mächte gedeutet. Insbesondere der Ehemann, der für sich das Recht in Anspruch nimmt, an seiner Frau eine schicksalhafte Hexenprobe auf Leben oder Tod vorzunehmen.

Buchtrailer zu "Wenn die Sonne untergeht"
"Wenn die Sonne untergeht" als Taschenbuch
Wenn die Sonne untergeht

Literarischer Impressionismus

Jonas Lies Stil wird im Allgemeinen mit dem Impressionismus verbunden, dem ausschnittartigen Zeigen und andeutenden Beschreiben von Bildern, so dass das große Ganze erst im Bewusstsein des Lesers entsteht. Herman Bang, auf den Lie großen Einfluss hatte, charakterisiert dies als Jonas Lies große Leistung, von der kein nordischer Romanschreiber unbeeinflusst geblieben sei. Ziel dieser Technik sei, dass der Leser intensivst möglich sehe, höre, fühle, begreife, denn entscheidend sei die Macht, die die Erzählung auf den Leser habe.

Aber die Ehefrau Thomasine hatte hierbei auch großen Einfluss. Schrieb Jonas Lie beispielsweise "er setzte den Hut auf", sagte seine Frau, wo solle er ihn den sonst aufsetzen. Sie sorgte für Präzision. Dieser Einfluss ist von ihm des Öfteren bestätigt worden. So bezeichnete er sie in einem Artikel als seine Mitarbeiterin, die im Grunde auch auf dem Titelblatt hätte erscheinen können. "Ich kann sagen, dass das Beste, was ich geschrieben habe, unter ihrem Geist und ihrem Einfluss entstanden ist." Sie habe Anteil an dem Schönsten und Geglücktesten, das er geschrieben habe. Die seiner novellistischen Arbeiten, die auf Geschmack und Logik beruhten, und darauf, dass am Faden der Geschichte fest gehalten würde, wären kaum ohne sie entstanden.

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Späte Rückkehr nach Norwegen

1906 erst zogen Jonas und Thomasine Lie nach verschiedenen Besuchen endgültig nach Norwegen zurück. Südlich von Oslo direkt am Meer, hatten sie sich ein Haus gebaut, das "Elisenfryd" genannt wurde. Am 7.10.1907 starb die Frau nach einer Krebsoperation und einem darauf folgenden Hirnschlag. Der Sohn Erik berichtet, wie Jonas Lie an ihrem Krankenbett saß und, wie mit sich selbst, über die Rose von Zaron und das ewige Zusammenleben redete. Er selbst starb weniger als ein Jahr später am 5.7.1908 sehr friedlich.

"Sonntag vormittag - den 5.Juli 1908 - spürte man Zeichen, dass es bald vorbei sein würde. Der Atemzug wurde schneller, der Ausdruck unbestimmt umherirrend. Noch um 11 Uhr hatte er ein paar seiner Kinder erkannt. Um 1:45 Uhr schlief er dahin, friedlich, ohne Kampf, ohne Schmerzen. (...) Voll angekleidet lag er auf der Chaiselonge im großen Saal mit der Tür geöffnet zum Hochsommer hinaus."

In Christiania fand ein großer, offizieller Trauergottesdienst statt, zu dem auch der König erschien. Dann wurde der Sarg nach Fredriksvern gebracht, wo Jonas Lie neben seiner Frau beigesetzt wurde.

Jonas und Thomasine Lie

Jonas und Thomasine Lie (Bild: Wikimedia Commons)

Grabstein Jonas und Thomasine Lie

Grabstein Jonas und Thomasine Lie (Bild: Orf3us)

Jonas Lies Unterschrift

Jonas Lies Unterschrift (Bild: Wikimedia Commons)

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