Ein schwieriger Zeitgenosse

Diese fehlende einheitliche Persönlichkeit wurde ihm oft vorgeworfen. Manche mochten ihn nicht, waren der Meinung, man könnte sich wegen seines sprunghaften Wesens nicht auf ihn verlassen, er würde sich bei den Leuten einschmeicheln und jedem das Wesen zeigen, was gerade passte. Dabei hat er diese Eigenschaft bei sich gar nicht geleugnet, betrachtete dies aber gar nicht als Fehler. Er konnte mit der Vorstellung einer festen Persönlichkeit und eines konstanten Ichs wenig anfangen.

Aber natürlich besteht kein Zweifel daran, dass er ein schwieriger Zeitgenosse war. Zahlreiche biographische Anekdoten belegen dies. Als er einmal eingeladen wurde, in einem Haus eine Woche zu bleiben, um ein Gedicht fertigzuschreiben, für das er gerade die Inspiration hatte, blieb er ganze sieben Monate. Dabei verärgerte er im Laufe der Zeit nicht nur alle Freunde des Hauses, sondern gleichzeitig durch den Inhalt seiner schriftstellerischen Tätigkeit das literarische Kopenhagen. Er war aber auch jemand, der die Menschen um sich herum für sich gewinnen konnte, selbst wenn diese sich geschworen hatten, auf Distanz zu bleiben. So erging es einmal dem dänischen Dichter Adam Oehlenschläger in Paris, als Baggesen ihn umarmte, das 'du' aufzwängte und sich daraus ein bis spät in die Nacht dauerndes Gespräch entspann, so dass Baggesen noch bei Oehlenschläger übernachten musste.

Jens Baggesen (Kupferstich) (Bild: Wikimedia Commons)

Adam Oehlenschläger (Bild: http://upload.wikimedia.org)

Arme Herkunft

Manches in seinem Verhalten hat einen Grund in seiner Herkunft. Er wurde am 15.2.1764 in Korsør in eine arme Familie hineingeboren, in der viele Geschwister folgen sollten. So war Baggesen in seinem Leben oft auf Gönner angewesen. Solche Umstände führen zwangsläufig dazu, gefallen zu müssen und zu wollen und einen bestimmten Ton zu pflegen, um das zu bekommen, was man benötigt für seinen Lebensweg. 1777-1782 besuchte er die Lateinschule in Slagelse und begann 1782 in Kopenhagen Theologie zu studieren.

Auch später sollte sich an gewissen Abhängigkeiten nichts ändern, als er enge Kontakte zum Adel pflegte und auf deren Gütern in Süddänemark und Holstein lebte. Diese adeligen Kreise waren im allgemeinen deutschfreundlich, weshalb diese Verbindungen und seine eigene Neigung zum Deutschen ihm von den fortschrittlichen, dänisch gesinnten bürgerlichen Kreisen oft übel genommen wurde.

Weltbürger und empfindsamer Aufklärer

Doch muss man hier mehr sehen als den Wunsch, gefallen zu wollen. Aus Deutschland kamen damals alle wichtigen literarischen Impulse. Damit einhergehend sah er sich, ganz den Idealen der Aufklärung verpflichtet, als Weltbürger und Kosmopolit, der sich durch seine vielen Reisen und Auslandsaufenthalte Dänemark immer mehr entfremdete: "Ich war Weltbürger, bevor ich Staatsbürger wurde und Staatsbürger, bevor ich Weltbürger wurde."

Er ging in seinem Heimatland aber auch keinem Streit aus dem Wege. 1813 begann er als Theaterkritiker den Romantiker Adam Oehlenschlänger (1779-1850) und dessen Werk zu kritisieren. Dieser Streit, der im Laufe der Zeit immer persönlicher wurde, wurzelte in einem grundverschiedenen Menschheits- und Dichtungsideal. Baggesens Wurzeln liegen in der Aufklärung, in der rationalen des eigenständigen Denkens sowie in der empfindsamen des authentischen, individuellen Gefühls. Zwischen diesen beiden Polen, dem Philosophisch-Theoretischen und dem Gefühlvoll-Theoretischen bewegte er sich.

Karikatur über die Literaturfehde zwischen Jens Baggesen (links) und Adam Oehlenschläger (rechts)
Karikatur

Karikatur (Bild: Wikimedia Commons)

Ironische Lebenshaltung

Gleichzeitig war Baggesen dichterischer Meister der Kunst des Augenblicks, dem Prinzip, nach dem er auch lebte. So wurde er 1785 bekannt mit "Komischen Erzählungen" oder veröffentlichte 1806 "Scherzhafte Reimbriefe". Dies verkörperte eine Art der Dichtung, die vielleicht als formal brillant und unterhaltsam, aber nach klassischem Maßstab als ebenso unausgereift bewertet wurde wie der Verfasser selbst. Es fehlte den Kritikern an Baggesen das Streben nach dem Ewigen, dem Großen; man vermisste die Anerkennung des Ideals von Ganzheit, des Eins-Sein. Im Gegenteil pflegte er die Tatsache, dass er gewissermaßen viele war. So konnte er die eigene Ernsthaftigkeit ständig brechen. Er selbst kennzeichnete seine Lebenshaltung als "ironisch". Doch schrieb er gleichzeitig folgendes in einem Brief an einen Freund, der ihm fehlenden Ernst vorgeworfen hatte: "Mein tiefer Ernst wäre dir und allen Sterblichen unerträglich, wenn ich ihn nicht in diese Narrenkappe einwickelte."

Das dänischsprachige Hauptwerk „Das Labyrinth“

Also wurde ihm später in den Literaturgeschichten gern vorgworfen, er habe die Entwicklung ins 19.Jahrhundert zu Klassik und Romantik nicht geschafft. Schon früh, im Jahre 1789, war er in eine künstlerische Fehde geraten, die mit der Uraufführung der Oper "Holger Danske"zusammenhing und wo schon sein deutscher Einfluss kritisiert wurde. Im Anschluss daran unternahm er, von Krankheit geplagt, eine vom Prinzen von Augustenborg finanzierte Reise durch Deutschland und Frankreich in die Schweiz. Diese Reise ist die Grundlage seines berühmtesten Werkes "Das Labyrinth", des ersten modernen Prosawerkes der dänischen Literatur, dessen Ton und Inhalte in einer fließenden, begeisternden Prosa ständig wechseln. Das Triviale und Heilige, das Uninteressante und das Bedeutende, das Ernste und das Heitere wechseln hier einander auf scheinbar selbstverständliche Weise ab, ohne dass das Werk uneinheitlich erscheint. Alles entspringt ganz natürlich und authentisch dem Wesen des Verfassers. "Das Labyrinth" zeigt die beiden Seiten Baggesens. Es zeigt den politisch engagierten Aufklärer, der ein erschreckendes und beeindruckendes Porträt der Frankfurter Judengasse liefert, aber auch den zum Höchsten strebenden, gefühlvollen Schwärmer, den das Besteigen von Hügeln, Bergen und schließlich des Straßburger Münsters in poetische Begeisterung versetzt. Den Moment erleben, sich hinreißen lassen, nicht die üblichen Sehenswürdigkeiten betrachten, sondern die Stimmung der Natur, der Umgebung, einer Stadt in sich aufnehmen, das ist das Prinzip der Reise und des Buchs.

Aber "Das Labyrinth" zeigt auch den Freund der Frauen, dessen Tag gerettet ist durch ein hübsches, weibliches Gesicht auf der Straße. Dabei hatte er eine äußerst hehres Liebesideal: Durch enthaltsame Schwärmerei die himmlische Liebe auf die Erde holen. Mit der verheirateten Frau Pram hatte er eine solche wild-platonische Beziehung. Allerdings zehrten diese keuschen Prinzipien auch an seiner Gesundheit. In der Schweiz lernte er dann seine erste Frau Sophie Haller kennen, die allerdings eine normale Ehe bevorzugte. Das entsprach dann auch dem ärztlichen Rat, der ihm gegeben worden war.

Die deutsche Übersetzung von "Das Labyrinth"
Das Labyrinth oder Reise durch Deutschland und die Schwei...
Die Kathedrale in Straßburg

Strasbourg's Cathedrale of Notre Dame at Night, Strasbourg, Alsace, France (Bild: Stephen Saks)

Professor in Kiel

1811 bekam er das erste Professorat für Dänische Sprache in Kiel. Dies hatte ideologische Gründe. Es war Teil der zumindest gewünschten Dänisierung des deutschsprachigen Landesteils Holstein. Aufgabe war die Propagierung der dänischen Sprache. Doch Baggesen nahm die Professur nicht sehr ernst, lebte nicht viel in Kiel und meldete sich dann die meiste Zeit krank. Allerdings hielt er einige äußerst spekulative sprachphilosphische Vorlesungen, deren Ziel es war, dem Dänischen eine theoretisch begründete, herausragende Stellung zu sichern, auch wenn das Deutsche nicht vernachlässigt wurde. Interessanterweise ist hierbei seine These, dass Deutsch die Sprache ist, in der bei Übersetzungen das Original am wenigsten Verlust erleidet. Aber auch die damaligen Errungenschaften der deutschen Sprache werden anerkannt: "Dass unter den vorhandenen Sprachen dieses Welttheils (…) die einzige, welche, in den wesentlichen Bedingungen zum Ausdruck der Menschheit, sich mit der bisher im Ganzen unerreichten Griechischen messen kann, die deutsche ist."

Ein deutschsprachiger Schriftsteller

Im Jahrzehnt zuvor hatte er daran gearbeitet, ein deutschsprachiger Schriftsteller zu werden. Neben Gedichten stechen hier drei größere Werke hervor: 1804 veröffentlichte er das poetische und heitere Epos "Parthenais" (kostenlos bei Google Books) über die Bergbesteigung eines jungen Mannes mit drei Frauen. 1804-1807 arbeitete er an "Ozenia", einem Epos über den Weltumsegler Cooke, das aber vermutlich aus Enttäuschung über das Bombardement der Engländer auf Kopenhagen Fragment blieb. Nach Frankreich fielen jetzt auch die Engländer als Hoffnungträger für die Freiheit aus. Das folgende Werk "Der vollendete Faust" spiegelt denn auch diese Desillusion wieder.

Goethe geht ins Irrenhaus: Buchtrailer zu "Der vollendete Faust"
Baggesens "Der vollendete Faust" als Taschenbuch (sprachlich modernisiert)
Der vollendete Faust oder Romanien in Jauer

Das Drama „Der vollendete Faust“

Baggesens "Der vollendete Faust" (veröff.: 1836, kostenlos bei Google Books) verlegt den Faust ins Irrenhaus. Das Drama ist nicht nur eine Satire auf Goethes Faust-Fragment. Baggesen lässt auch Goethe, Jean Paul, Madame de Staël, Fichte und Wieland selbst auftreten als Zuschauer einer Faust-Aufführung im Tollhaus. Neben dieser gern ironischen, aber respektvollen Darstellung der kulturellen Elite, ist es eine wilde Satire auf den Ich- und Geniekult der Vertreter der Romantik und des Sturm und Drang. Gleichzeitig zeigt es die politischen Zustände im 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, das nach verheerenden militärischen Niederlagen in Jena und Auerstedt von Napoleons Truppen besetzt worden war. Es handelt sich hier also nicht nur um eine Reaktion auf Goethes "Faust-Fragment", sondern auch um eine Darstellung Deutschlands. Es ist eine politische und eine literarische Satire. Hier trifft man zur Landesverteidigung unfähige Fürsten und Militärs und mit sich selbst und ihrem genialischen Ich beschäftigte Romantiker. Hier wird Baggesens Distanz zum Genie- und Ich-Kult deutlich: "Es ist nichts unzuverlässiger als kontinuierliche Persönlichkeit – der Satan steckt oft dahinter."

Es ist versucht worden, den Figuren des Dramas reale Vorbilder zuzuordnen. Doch selbst die naheliegende Vermutung, dass der ironisierende, aber als einziger klarsehende Hans Wurst am ehesten Baggesen selbst entspricht, ist nicht wirklich überzeugend. Baggesen-Experte Albertsen nennt das Ganze denn auch ein "Spiel mit Deutungsmöglichkeiten", das nicht aufgelöst wird.Erst später sollte Baggesen wieder ein deutsches Werk schaffen: 1826 schrieb er das Epos "Adam und Eva".

Johann Wolfgang von Goethe

Johann Wolfgang Von Goethe (1749-1832) 1828 (Bild: Josef Karl Stieler)

Delacroix: Faust und Mephisto

"Faust" de Goethe: Faust et Méphisto dans les montagnes du Harz: "Nous sommes encore loin..."; 1828 (Bild: Eugene Delacroix)

Tod

Am 3.10.1826 starb er in Hamburg auf der Reise von Paris nach Kopenhagen. Da seine Frau Sophie schon in Kiel begraben lag, fand er dort auch seine letzte Ruhestätte. 1900 wurden beide umgebettet und das Grab befindet sich heute auf dem Eichhoffriedhof in Kronshagen direkt an der Stadtgrenze zu Kiel.

Grabstein von Jens und Sophie ...

Grabstein von Jens und Sophie Baggesen auf dem Eichhoffriedhof in Kronshagen (Winter 2011) (Bild: Eigenes Bild)

Der Eichhoffriedhof in Kronshagen (bei Kiel): Das Grab von Jens und Sophie Baggesen liegt an der Wiese vor der Kapelle, die man am linken Bildrand erkennen kann.
Statue Jens Baggesen in Korsør ...

Statue Jens Baggesen in Korsør (Dänemark) (Bild: Wikimedia Commons (Hubertus))

Unterschrift Jens Baggesen

Unterschrift Jens Baggesen (Bild: Wikimedia Commons)

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