Der Zuschauerraum

© Renaissance-Theater Berlin

 

Ein bizarrer Kasper verschließt sich vor der Außenwelt

Es war nicht die Absicht des Erfolgsautors Harwood, sich genau an die Fakten zu halten und die reale Geschichte nachzuerzählen. Die künstlerische Freiheit hat er sich selbstverständlich herausgenommen, es handelt sich hier um eine Art fiktionalisierte Wirklichkeit. Über Jahrzehnte hatte der eigenbrötlerische, kontaktlos lebende Gurlitt seinen Frieden, für die Außenwelt existierte er quasi nicht. Doch es kommt alles ganz anders. Angefangen hat es mit einer harmlosen Zugfahrt von Zürich nach München. Es ist September 2010, Gurlitt gerät in eine Kontrolle, die sich als nicht ganz so harmlos erweist, weil der egomanische Sammler 9000 Euro bei sich trägt. Eine verdächtig hohe Summe, da denkt man doch gleich an Steuerhinterziehung. 5 Monate später erhält er Besuch von der Staatsanwaltschaft, es kommen Boris Aljinović und Anika Mauer und entdecken die Kunstwerke. Der von Udo Samel gespielte Gurlitt läuft in Hauskleidung und mit weiß geschminktem Gesicht herum. Die Farbe ist etwas abgegangen, der Hausherr sieht aus wie nach einer abgebrochenen Nassrasur. Schnell erweist er sich als ein bizarrer Kasper, der aber auch zum Ernst zurückfindet und rauere Töne anklingen lässt. Besonders gesellschaftsfähig ist das nicht, und man fragt sich unwillkürlich, was dieser vereinsamte Spinner so den ganzen Tag über in seiner Höhle getrieben hat. Ausflüchte und naive Bekundungen gehen über zu verbaler Messerschärfe, als wolle der kommunikationsentwöhnte "Gastgeber" in seiner angeblichen Hilflosigkeit die ganze Palette an menschlichen Haltungen ausschöpfen. In beinahe zärtlichen Worten stilisiert er seinen Vater zu einem Helden, der in der damaligen Zeit nur einen Fehler hatte: Eine jüdische Großmutter. Plötzlich legt er ungewöhnlichen Druck in die Stimmbänder.

 

Theater mit Kunst, aber kein Kunst-Theater

Bei Udo Samel sieht das gut aus. Dagegen wirken die Ermittler Boris Aljinović und Anika Mauer relativ trocken und zahnlos, mehr als einige gelungene Gesten sind nicht drin. Ihre Rollen geben keine Gelegenheit zum Aufdrehen. Dass Anika Mauer als Lise Schmidt trotz biederem Haarkranz noch einiges an Knusprigkeit mitbringt, ist auch der Aufmerksamkeit des Greises nicht entgangen. Seine frivolen Bemerkungen prallen jedoch an ihr ab, sie sitzt da mit forciertem Lippenrot und reagiert sachlich und routiniert, mit leisen Anflügen von Distinguiertheit. Damit kann der herzschwache Alte nichts anfangen. Der Regisseur Torsten Fischer hat aus dem Theater mit Kunst kein Kunst-Theater geschaffen. Er setzt nicht auf Ästhetik und inszenatorische Kunstgriffe, sondern auf seine Schauspieler – die sollen es richten. Das gelingt vor allem in Gestalt des überzeugenden Udo Samel. Als einige der Bilder abtransportiert werden – längst sind sie richtig herumgedreht -, klammert sich Gurlitt wie ein Kind an eins der kostbaren Leinwandproduktionen. Das ist sein Fleisch und Blut, seine "Familie". Sein Leben wandert in den Gulli, dass es rechtmäßige Besitzer und Erben gibt, interessiert ihn nicht, hat ihn nie interessiert. Irgendwann taucht ein Kunstsammler (Ralph Morgenstern) auf, der trotz seines Anzugs eine klebrigen, windigen Eindruck erweckt. Der Mensch lebt nicht von der Unmoral allein, er braucht auch Brot. Komischerweise entwickelt sich Gurlitt nun zu einem berechnenden Menschen, einem Durchtriebenen, einem kleinen Hasardeur. Aber Vergangenheitsbewältigung? Keine Spur. Die deutsche Geschichte, also die Machenschaften des 3. Reichs werden fast ausgeklinkt: Das Verbrechen mit der Raubkunst bleibt unangetastet. Was übrigens auch nicht die Intention von Ronald Harwood war. Nun, es hätte etwas mehr sein können, aber was letztlich entstand, ist gar so wenig nicht.

Entartete Kunst. Der Fall Cornelius Gurlitt
von Ronald Harwood
Aus dem Englischen von Max Faber
Regie: Torsten Fischer, Ausstattung: Herbert Schäfer, Vasilis Triantafillopoulos, Dramaturgie: Gundula Reinig.
Mit: Anika Mauer, Udo Samel, Boris Aljinović, Ralph Morgenstern.

Renaissance-Theater Berlin

Uraufführung vom 4. Oktober 2015
Dauer: 120 Minuten, eine Pause

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