Wie erforscht man Protest? Forschungsdesign und Methodik

Zunächst beschreiben die Forscher ihre Herangehensweise. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass gemeinhin bei der Erforschung von gesellschaftlichem Protest "soziale Bewegungen", also kollektive Akteure und Protestnetzwerke mit ihrer jeweiligen Identität, ihrem Mobilisierungspotenzial und ihren Deutungsstrategien im Fokus stehen, während die individuelle Ebene, die Ebene der einzelnen Akteure, vernachlässigt wird. Diese Lücke wollten die Autoren mit ihrem Forschungsprojekt schließen und damit – so ihr Anspruch – zu einer umfassenden Erklärung des Protests beitragen. Es ging den Autoren also primär um die Untersuchung der individuellen Antriebskräfte für Engagement und Protest, d.h., der biographischen Prägungen, Wertefundamente, Präferenzen und politischen Einstellungen derjenigen, die an der gesellschaftlichen Basis aktiv werden und hier viel Zeit und Energie für die Organisation von Protest aufbringen. Die Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von "Aktivisten". Untersuchungsmethoden waren Einzelinterviews und Gruppengespräche sowie die teilnehmende Beobachtung auf Demonstrationen und Versammlungen.

Der Protest gegen "Leuchtturmprojekte"

Das erste Protestfeld, das die Forscher erkundet haben, ist der Protest gegen sogenannte Leuchtturmprojekte, also Infrastrukturprojekte, die einer Stadt, einer Region, ja einem ganzen Land neuen Glanz verleihen sollen, die aber zwangsläufig eine Ökonomisierung von Städten und öffentlichen Räumen mit sich bringen. Drei Projekte standen hier im Mittelpunkt des Interesses, nämlich die Entwicklung des "Unternehmens Hamburg", der Neubau des Stuttgarter Bahnhofs, besser bekannt als "Stuttgart 21", sowie der Ausbau des Münchner Flughafens. Dabei hat keine andere Protestbewegung in den letzten Jahren eine solche mediale Aufmerksamkeit erfahren wie der Protest gegen das Projekt Stuttgart 21. Und wie bei keiner anderen Protestbewegung sind hier die Akteure durch ein "Wechselbad der Gefühle" gegangen, bei dem eine anfängliche Hochstimmung nach Misserfolgen in Verbitterung umgeschlagen ist. Beim Unternehmen Hamburg handelte es sich um Umstrukturierungsprozesse in einzelnen Stadtteilen, auf die mit der Gründung des Netzwerks "Recht auf Stadt" reagiert wurde. Dem Protest gegen den Münchner Flughafenausbau lag das Unverständnis über eine Politik zugrunde, die die von ihr selbst erhobenen ethischen Prinzipien nicht einzuhalten vermochte. Die Akteure an allen drei Protestschwerpunkten eint das Gefühl – so die Autoren –, Teil einer großen, wachsenden und breit ausgreifenden Gruppe von Protestierenden zu sein, sowie die Erkenntnis, etwas gegen den Willen der Politik bewegen zu können, auch wenn dabei Rückschläge hingenommen werden müssen.

Bürgerproteste gegen Bauprojekte im Zuge der Energiewende

Wie die Autoren festgestellt haben, wollen Bürger, die gegen Bauprojekte im Zuge der Energiewende protestieren und sich deshalb zu Bürgerinitiativen zusammenschließen, Eingriffe in ihr Lebensumfeld verhindern. Dem Engagement gegen die geplanten Projekte liegt also oft persönliche Betroffenheit zugrunde. Die in diesem Bereich protestierenden Bürger sehen sich oft, wie die Autoren betonen, dem Vorwurf ausgesetzt, sich am "Sankt-Florians-Prinzip" zu orientieren, also nicht grundsätzlich gegen solche Projekte zu sein, selbst aber nicht "die Leidtragenden" sein zu wollen. Man spricht in diesem Zusammenhang von "Nimby". Die Autoren sehen darin eine unzulässige Abqualifizierung dieses Protests und betonen, dass es den Betroffenen um etwas sehr Wichtiges gehe, nämlich um den Erhalt ihrer "Heimat". Häufig wird Heimat auch gleichgesetzt mit "Natur".

Proteste im Bereich der Bildungspolitik

Proteste im Bildungsbereich - die die Autoren u.a. am Beispiel der von einer Protestinitiative zu Fall gebrachten Schulreform in Hamburg verdeutlichen – gehen einher mit einem Konflikt zwischen den Gegnern und den Befürwortern von Veränderungen des Bildungssystems. In diesem Zusammenhang ist für die Autoren ein bemerkenswertes Ergebnis der Studie, dass es bei diesem Konflikt nicht um eine reine Abwägung von Sachfragen geht, sondern dass hier vollkommen unterschiedliche Lebensstile und Denkweisen, also vollkommen unterschiedliche Wertehaltungen und Gesellschaftsbilder sowie Vorstellungen von Demokratie aufeinandertreffen.

Die Anti-Atomkraft-Bewegung

Die Anti-Atomkraft-Bewegung ist die langlebigste, zäheste und ausdauerndste Protestformation der Bundesrepublik, und sie besteht auch nach dem offiziellen Ausstieg der Bundesrepublik aus der Nutzung der Kernenergie fort, weil – wie die Studie gezeigt hat - bei den Atomkraft-Gegnern nicht der Eindruck besteht, mit dem gesetzlichen Atomausstieg ein Ziel erreicht zu haben. Für die Autoren ist ferner bemerkenswert, dass sich bei der Anti-Atomkraft-Bewegung über die Jahre eine vielfach verästelte Protestinfrastruktur entwickelt hat, die nicht fest institutionalisiert ist, sondern heterogen, geprägt von offenen, flexiblen Kooperationsstrukturen, wobei sich jedoch eine quasi professionelle Bewegungsorganisation herausgebildet hat, die die einzelnen Protestgruppen miteinander verbindet und damit den übergreifenden Kontakt nie abreißen lässt. Darüber hinaus stehen die Aktivisten über informelle Netzwerke miteinander in Verbindung. Wie kaum eine andere Protestformation hat die Anti-Atomkraft-Bewegung – so ein weiteres wichtiges Ergebnis der Studie – ein klares Feindbild, nämlich die Atomindustrie und ihre "Helfershelfer" in der Politik.

Die Occupy-Bewegung

Die Anhänger der internationalen Occupy-Bewegung sorgten in den Jahren 2011/2012 für Furore, indem sie vor allem in den großen Metropolen an symbolträchtigen öffentlichen Plätzen Protest-Camps errichteten. Der deutsche Ableger von Occupy ist für die Autoren ein weiterer Akteur innerhalb eines in Deutschland stark fragmentierten und uneinigen, mitunter auch zerstrittenen linken Spektrums. Hauptanliegen der Aktivisten war – so die Autoren – durch ihre Camps Präsenz zu zeigen, den Protest zu verankern und den Bürgern ein offenes Forum zum Gedankenaustausch zu bieten. Dazu gehörte ein Veranstaltungsprogramm mit Diskussionen und Vorträgen, für die sich auch prominente Referenten zur Verfügung stellten. Das Interesse der Medien war deshalb enorm. Daraus entwickelte sich einerseits eine durchaus positiv zu bewertende "Campkultur", zu der beispielsweise eigene Lesezirkel, Zeitungen und Internetforen gehörten, andererseits war das Campleben von Anfang an vor allem durch die enorme Heterogenität der Camp-Bewohner, die stark schwankende Teilnehmerzahl und organisatorische Probleme belastet. Spannungsreich war auch die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen und Initiativen innerhalb des linken Spektrums. Ferner ist den Autoren aufgefallen, dass in den von ihnen moderierten Diskussionsrunden mit den "Campern" eine besondere Redekultur herrschte, wobei man wirklich von "Kultur" sprechen kann, denn auch im Streitfall wurde auf die Argumente des "Gegners" empathisch eingegangen.

Die Anti-Euro-Proteste

Als Reaktion auf die europäische Staatsschuldenkrise und das damit verbundene Krisenmanagement ist ein – wie die Autoren es nennen – Euro-kritisches Protestspektrum entstanden, das verschiedene politische Gruppierungen umfasst. Dabei wird deutlich: Die Kritik am Euro wird im Kontext etablierter Institutionen geübt, eine Euro-kritische Bewegung gibt es nicht. Was die Ursache des Protests betrifft, so hat die Studie gezeigt, dass der Euro für seine Kritiker ein Symbol ist für bedrohliche gesellschaftliche Entwicklungen, die sie mit ihm und den politischen Strukturen der Europäischen Union verbinden. In diesem Zusammenhang diagnostizieren die Euro-Kritiker eine schleichende "Sozialdemokratisierung" der EU, der BRD und aller politischen Parteien, die zum Ausdruck komme in einer Zentralisierung politischer Entscheidungen in Brüssel. Folge sei ein Verlust demokratischer Legitimation. Bei der Identifikation konkreterer Gegner und der Beschreibung politischer Gegenentwürfe bestehen – so die Autoren – zwischen den einzelnen Euro-kritischen Gruppierungen erhebliche Differenzen. Einig zeige sich das Spektrum der Euro-Kritiker dagegen bei ihrem Rückgriff auf ein politisches Stilmittel des Populismus, nämlich die Lust am Tabubruch.

Satirische Protestgruppen – "Front deutscher Äpfel" und die PARTEI

Politische Akteure, die Satire zum Grundsatz ihres Protests erklärt haben, engagieren sich – so die Autoren – mittels einer spezifischen Protestform. Und zwar liegt dieser Protestform das Bemühen zugrunde, für eine bestimmte Zeit die Kommunikationsstrukturen zu verändern, genauer: sie zu verkehren und umzudeuten. Das heißt: Satire soll als "Irritation" die eingespielten Abläufe der (Re-)Produktion von Macht erkenntlich machen. Sie skandalisiert die Inszenierung von Demokratie durch eine eigene Inszenierung und macht damit die "Realsatire" erst sichtbar. So parodiert die "Front deutscher Äpfel" tradierte Symbole, Botschaften und Auftreten der Rechtsextremisten, indem sie diese konsequent auf Anbau und Verwertung von Obst überträgt. Die Aktivisten betrachten sich als eine Art kreativer Guerilla und damit als "Freiheitskämpfer".

Internetproteste

Durch die Nutzung des Internet als zentrale Mobilisierungsressource hat sich das Feld des politischen Protests erheblich verändert. In diesem Zusammenhang unterscheiden die Autoren zwischen Protest im Netz "an sich" und Protest im Netz "für sich". Protest "an sich" umfasst alle Formen, bei denen das Internet als Medium des Protests genutzt wird, wobei sich die Inhalte nicht auf Netzpolitik beschränken. Netzprotest "für sich" meint hingegen all das, was originär auf netzpolitische Anliegen wie die Aufrechterhaltung der bestehenden Netzstrukturen und -kulturen abzielt. Dabei gibt es – so die Autoren – zwei Protestgruppen, nämlich Ältere, die bereits bei Demonstrationen Konflikterfahrungen mit dem Staat gemacht und einen in erster Linie instrumentellen Zugang zum Internet mit nur begrenzter Reichweite hatten, und Jüngere, die mit einem umfassenden Zugang zum Netz großgeworden sind, die sich aber politisch noch nicht engagiert hatten. Ein wichtiges Bindeglied zwischen beiden Gruppen war der – letztlich erfolgreiche - Protest gegen politische Vorhaben wie Netzsperren, die Vorratsdatenspeicherung und das Anti-Counterfeiting Trade Agreement (Acta), ein multilaterales Handelsabkommen, das Maßnahmen zum Schutz geistigen Eigentums vorsah, die eine Reihe von weitverbreiteten Formen der Kommunikation und Interaktion im Internet tangiert hätten. Bei der Nutzung des Internet für Protestaktionen lässt sich – so die Autoren – mit vergleichsweise geringem Aufwand eine beachtliche Menge von Botschaften und Informationen herstellen und verbreiten. Dabei folgen Internetproteste zumeist einem Dreischritt aus anwachsendem Hintergrundrauschen im Netz, einer politisch-kulturellen Erregung und schließlich einer wachsenden Radikalisierung.

Die wesentlichen Merkmale des Bürgerprotests in Deutschland

Im letzten Kapitel fassen die Autoren zunächst die Ergebnisse ihrer Untersuchung noch einmal zusammen. Ein wichtiges Resultat ist, dass aktiver Protest sehr viel Zeit erfordert und dass es deshalb nicht verwunderlich ist, dass die Träger des Protests oftmals Personen sind, die noch nicht oder nicht mehr beruflich eingebunden sind bzw. Berufe ausüben, bei denen sie sich ihre Zeit frei einteilen können. Das heißt: Viele Aktivisten sind Senioren, wobei sich vor allem diejenigen engagieren, die bereits auf jahrzehntelange Protesterfahrung zurückblicken können. Und es sind in der Regel Senioren mit hohem sozialen Status und hoher Bildung. Ferner ist ein Großteil der protestierenden Bildungsbürger männlichen Geschlechts. Ein weiteres wichtiges Resultat ist die "Vererbung" des Protestverhaltens, also die Weitergabe des Engagements von den Eltern an die Kinder. Was die Motive des Protests betrifft, so herrscht bei der überwiegenden Mehrheit der Aktivisten die Auffassung vor, in einer "Wolfsgesellschaft" zu leben, also in einer Gesellschaft, die von einem "Raubtierkapitalismus" dominiert werde, in der die Demokratie zu einer "Scheindemokratie" entartet und die Mehrheit der Bürger lethargisch sei. Diese Entartung der Demokratie wird vor allem darauf zurückgeführt, dass sich die Verbände der ökonomisch Mächtigen, die Lobbyisten, zwischen den Demos und die aus Wahlen hervorgegangenen Repräsentativkörperschaften gedrängt hätten. Die Aktivisten stellen dem die Vorstellung von einer Basisdemokratie bzw. Partizipationsdemokratie gegenüber.

Zur Bedeutung des Bürgerprotests

Abschließend erfährt man, wie die Autoren den Bürgerprotest in Deutschland insgesamt beurteilen. Danach gibt es Formen des Protests, bei denen die Aktivisten nicht für eine Mehrheit der Bevölkerung sprechen und handeln, sondern nur Partikularinteressen vertreten. Ein anderes Problem sind die Ungereimtheiten und Unzulänglichkeiten, die mit dem Bürgerprotest verknüpft sein können. Hervorzuheben sind hier die naive oder auch vereinfachte Weltsicht vieler Aktivisten, ihre Unfähigkeit oder auch mangelnde Bereitschaft, die Komplexität und Tragweite politischer und ökonomischer Prozesse zur Kenntnis zu nehmen - während sie gleichzeitig auf ihren hohen Sachverstand pochen - und ihre latente Sympathie für autoritäre "Lösungen". Hinzukommt der Ausschluss nichtakademischer Schichten aus dem Protestmilieu und eine damit einhergehende Verschärfung sozialer Ungleichheit bzw. Spaltung der Bevölkerung in politisch Lethargische und politisch Aktive. Andererseits würden sich – wie die Autoren betonen - ohne den misstrauischen Blick aufmerksamer Bürger politische und ökonomische Macht verselbständigen und korrumpieren. Insofern ist Misstrauen, das in Protest umschlägt, ein Seismograph für Deformationen und zeigt die Notwendigkeit politischer und sozialer Veränderungen an. In dieser Funktion kann Protest die Demokratie stärken. Insgesamt ist also – folgt man den Autoren - der Bürgerprotest in Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts positiv zu bewerten.

Fazit

Die Ergebnisse der Studie zum Bürgerprotest, die die Autoren präsentieren, geben einen umfassenden Überblick über die gegenwärtigen Protestbewegungen in Deutschland, wobei die Autoren "Licht und Schatten" des Bürgerprotests aufzeigen. Kurz und gut: Wer wissen möchte, was deutsche Bürger am Anfang des 21. Jahrhunderts dazu motiviert, öffentlich ihren Unmut zu bekunden, und welche gesellschaftlichen Folgen der Bürgerprotest haben könnte, ist mit diesem Buch bestens bedient.

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Alle Bilder: Pixabay.com

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