Alle Vögel fliegen hoch: Schauspiele ...

Alle Vögel fliegen hoch: Schauspieler und Atrappen (Bild: © Thomas Aurin)

Der Boden wird häufig verlassen

Der Autor Witzel, beim Schlussapplaus höchstselbst auf der Bühne erscheinend, hat einen extrem frühreifen Namenlosen kreiert, der arg viel reflektiert und sich in unzähligen Assoziationen windet. Petras versucht dieses ausufernde, mit prallen Geschichten angefüllte Gehirnleben zu inszenieren und erreicht eine pulsierende Darstellungsfülle, bei der etwas zu heftig monologisiert wird. Die Darsteller*innen Jule Böwe, Julischka Eichel, Paul Grill, Peter René Lüdicke und Tilman Strauß verlassen häufig die Bodenständigkeit und fangen auch an zu fliegen, und selten bis gelegentlich sieht man ein paar Flügel wachsen, die dann wieder ins Flügellahme übergehen. Jule Böwe, seit siebzehn Jahren bei der Schaubühne verpflichtet und offensichtlich von Ostermeier mit einem Lebensvertrag ausgestattet, wirbelt mit ihrem bewährten Underground-Stil auf altgedienten Brettern der wohlverdienten Rente entgegen. Immerhin: Sie macht ihre Sache gut, zumal das Inszenierungsthema ihr sehr entgegenkommen zu scheint, eben RAF, ins Lächerliche gewendete Kirche und Psychiatrie. Für die Seelenklempnerei hat sie sogar eine Ausbildung, obwohl sie die Nerven eher aufrüttelt als beruhigt. Julischka Eichel, nach etwa drei Jahren Berlinabstinenz aus der empfundenen Wüste zurückgeholt, hat einiges an Facettenreichtum hinzugelernt. Egal ob Krankenschwester, krude NVA-Militaristin oder die Band begleitende Sängerin – sie wechselt die Rollen in gehoben-spielerischer Manier.

 

Jule Böwe (vorne), Julischka Eichel und Paul Grill

© Thomas Aurin

 

Nackte Hintern und verlorene Nerven

Klar, es sind zuweilen Paroxysismen des Geistes, die hier dargestellt werden. Dabei weist das Drama auch nostalgische, primitiv-antiquarische Elemente auf, etwa die Büroartikel-Hersteller Geha und Pelikan, an die sich selbst "spätere" Schüler*innen erinnern können. Und etliche andere Konsumprodukte, die die konsumverachtenden, lieber kiffenden und im Schlabber-Look herumlaufenden 69er in Anspruch nahmen. Und nebenbei wurde heftig politisiert, besonders scharf gegen geistig unterbelichtete Politiker. Armin Petras kann es sich nicht verkneifen, die nackten Ärsche der K1-Kommunarden zu präsentieren. Statt Kunzelmann, Teufel und Langhals eben nur die profanen, weil unhistorischen Hintern von Strauß, Lüdicke & Co. Im Hinterkopf die radikalisierte Variante, der Baader-Ensslin-Kaufhausbrand vom 2. April 68 in Frankfurt, übrigens mit Underground-Theatermacher Horst Söhnlein, der nach einem Streit mit Rainer Werner Fassbinder im Münchener action-Theater sich irgendwie an irgendjemand rächen wollte. Neben Westberliner-Tupamaros Kunzelmann'scher Provenienz kommt auch die Kirche zu ihrem fragwürdigen Recht, allerdings in depravierter Form. Der Nervenspezialist Dr. Märklin und Pfarrer Fleischmann kümmern sich um den von Einfällen überladenen, verwirrten Jungspund, der sich sogar logomäßig in die Erfindung der RAF hineinphantasiert. Der Roman lebt von der Sprachgewalt, allerdings kann man das auf der Bühne so nicht darstellen bzw. zur Sprache bringen. Armin Petras, unermüdlich bemüht um eine Ostwest-Aufarbeitung und eine Konsolidierung seines Theaterimages, erschafft mit seinen Mitteln einen zum Mini-Kosmos gerinnenden historischen Zeitabschnitt, in dem selbst Splitter mal effekthascherisch oberflächlich, mal intensiv seziert werden. Mit seinem kunterbunten Tour-de-Force-Ritt präpariert er im Grunde eine alte Brühe auf und präsentiert sie, auf eigene Darstellungsdirektiven und Methoden zurückgreifend, zu etwas vermeintlich Neuem. Einen Erkenntnisgewinn erzielt er dadurch nicht. Aber immerhin ist Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969 eine respektable Lebensabschnittsleistung, oft albern, schauspielerisch versiert, kraftvoll und entlarvend auch.

Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969
von Frank Witzel
Uraufführung
Theaterfassung von Armin Petras und Maja Zade
Regie: Armin Petras, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Annette Riedel, Video: Rebecca Riedel, Dramaturgie: Katrin Spira, Maja Zade-

Live-Musik: Die Nerven.
Mit: Tilman Strauß, Jule Böwe, Paul Grill, Julischka Eichel, Peter René Lüdicke.

Schaubühne Berlin

Uraufführung vom 9. April 2016
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

 

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