Christoph Gawenda, Laurenz ...

Christoph Gawenda, Laurenz Laufenberg, Renato Schuch (Bild: © Arno Declair)

Die Helfer helfen dem Opfer gar nicht

Ostermeier ist noch ein Regisseur, der Geschichten erzählt, mit Anfang und Ende, und den Triumph der Narration perpetuiert. Diesmal hat er eine Verschachtelungstechnik angewandt, die übrigens der Inszenierung zugutekommt. Nach der Tat flüchtet Édouard (Laurenz Laufenberg) zu seiner Schwester Clara (Alina Stiegler) und erstattet ihr subjektiven Bericht, den sie aus ihrer Sicht vielleicht anders interpretiert. Jedenfalls taucht Clara gemäß der Zeitverrückung und des Perspektivismus schon während der Gewaltaktion auf der Bühne auf und gibt ihre Kommentare dazu ab. Genauso Christoph Gawenda, der unter anderem als Polizist und Arzt auftritt, als wären sie während der unsanften Prozedur dabeigewesen. Der Arzt spricht von einer halben Todeserfahrung, die Polizei ordnet den Täter dem Maghreb zu, als wüsste sie über diesen "Typus" besonders genau Bescheid – aber ist das schon Rassismus? Das Abenteuerliche ist, dass Édouard seine Helfer instinktiv abzulehnen scheint, als seien sie etwas unbekannt Feindliches. Naturgemäß betrachtet die Polizei den Fall anders, auf Einfühlungsvermögen und potentielle Gefühle versteht sie sich nicht – darauf muss sich jeder einstellen, der sich mit der Exekutive einlässt. Und Édouard glaubt nun, man habe ihm Tathergang bzw. seine Geschichte geraubt und will sie wie ein kleines Kind wiederhaben. Im Übrigen fühlt er sich mit Reda (Renato Schuch) in einem nebulösen proletarischen Sinne solidarisch, obwohl er längst zum saturierten Bürgertum vorgedrungen ist. Die Hinwendung zur Ordnungsmacht ist wie ein Wechsel ins fremde Lager.

 

Laurenz Laufenberg, Alina Stiegler, Renato Schuch

© Arno Declair

 

Keine Feier der Homosexualität

Es dominiert ein permanentes Video-Rauschen, die Schauspieler*innen sind in Live-Aufnahmen zu sehen. Das kurzzeitige Chrashkurs-Paar ist sehr ungleich. Édouard ist zurückhaltend, eher befangen und zaghaft, sich sogar als Aufsteiger unwohl fühlend, während Reda sich zupackend gebärdet, mit großen dunklen Augen und leiser Tatgier im Blick. Renato Schuch mit seinem Rauschebart wirkt wie das klassische Konterfei eines islamistischen Kämpfers (Klischee!), der sich gelegentlich aus Erfrischungsgründen ins libertäre, enthemmte Privatgetümmel wirft und dabei zufällig auf einen Gehemmten trifft, der die bürgerliche Fassade mühsam aufrechterhalten kann. Eine Feier der Homosexualität ist das nicht – nicht nur, dass man von außen ausgegrenzt wird, die Gefahr droht auch im Innern, von den "eigenen" Leuten. Selber schuld, würden die Spießer sagen! Édouard macht die erschütternde Erfahrung, dass jeder eine eigene Version hat, er aber die einzig richtige, weil durchlebte. Psychische Unterstützung gibt es wenigstens sporadisch von der Schwester Clara, deren Mundwerk mitunter die klareren Gedanken verdrängt. Im Grunde wäre sie lieber mehr als eine Provinzschwester, die mit einem dumpfen, tumben Dauer-Biertrinker (Gawenda) verheiratet ist. Mit den schauspielerischen Leistungen kann man zufrieden sein. Auch mit Ostermeiers Inszenierung, die irgendwo im Bereich des gehobenen Durchschnitts anzusiedeln ist.

 

Im Herzen der Gewalt
Deutschsprachige Erstaufführung
von Édouard Louis
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.

Fassung von Thomas Ostermeier, Florian Borchmeyer und Édouard Louis
Regie: Thomas Ostermeier, Mitarbeit Regie: David Stöhr, Bühne und Kostüme: Nina Wetzel, Musik: Nils Ostendorf, Video: Sébastien Dupouey, Dramaturgie: Florian Borchmeyer.
Mit: Alina Stiegler, Renato Schuch, Christoph Gawenda, Laurenz Laufenberg, Musik: Thomas Witte.

Schaubühne Berlin, Premiere war am 3. Juni 2018, Aufführung vom 1. Juli 2018
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

 

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