Schaubühne Berlin: Kritik von "Lenin" - Milo Rau
Premiere. Lenins letzte Tage am Sterbebett. Hinter seinem Rücken werden Machtkämpfe über den Nachfolger ausgetragen.Ursina Lardi, Iris Becher, Konrad Singer, Felix Römer (Bild: © Thomas Aurin)
Ursina Lardi: Aus der charmanten Frau wird ein röchelnder Greis
Ohne Zweifel, es ist ein Handwerkstheater, das dem detailgenauen Realismus verpflichtet ist. Das Bühnenbild erinnert an Sommergäste von Alvis Hermanis (Schaubühne, 13.12.2012), nur dass Rau den knallharten, derben Naturalismus in einen Hyper-Realismus übersetzt, der freilich historische Personen entblößt. Damir Avdic spielt Stalin als kühl kalkulierenden Machtmenschen, der sich wie ein gutmütiger Familienonkel verhält, aber unter dem Tisch schon das Messer wetzt und Lenins Gattin Nadeschda (Nina Kunzendorf) durch eine brutale Geste diskriminiert. Trotzki dagegen (Felix Römer) wirkt wie ein intellektueller Theoretiker, der den Mechanismen der Herrschaftsansprüche nicht gewachsen ist und wie ein harmloser Cafè-Prediktrevolutionär daherkommt. Erstaunlich Ulrich Hoppe, eigentlich ein hauptamtlicher Komiker par excellence, er tritt diesmal seriös auf und hat seine Spaßgesichtsmuskeln, die sich gern amüsiert aufblähen, im Griff. Die Live-Kamera ist gegenwärtig und entwirft Großprojektionen über der Bühne. Ursina Lardi als Lenin steht freilich im Mittelpunkt: Sie wird im Laufe des zweistündigen Abends am Schminktisch verwandelt, sie ist zunächst eine charmante, viel jünger wirkende, doch als abgehalftert dargestellte Leninfigur, die sich sogar nackt präsentiert, als sei es die vorgefasste Absicht, versteckte Erotomane bei der Stange zu halten. Aber darum geht es Milo Rau gar nicht: In seinem Abbildungstheater will er nur den puren Realismus zeigen und er geht dabei ins natürlich Leibliche mitsamt Afterthermometer des Leibarztes KB Schultze. Am Schminktisch (Katie Mitchell lässt grüßen) wird Lardi zum frühzeitig ergreisten, von Schlaganfällen gebeutelten Lenin, ausstaffiert mit Glatze und abgeschliffenem Spitzbart. Jetzt vegetiert der moribunde Maitre nur noch, er röchelt und versucht, letzte Kampfparolen aus seinen verstopften, paralysierten Gehirnarealen auszukotzen. Gewiss, Ursina Lardi übertreibt ein wenig, sie chargiert zuweilen, und sie legt auch mal im Chefsessel einen, bei Schilddrüsenüberfunktion üblichen Glotzblick hin wie bei Helmut Kohl in den letzten Jahren. Trotz (oder wegen) aller gefühlsmäßigen Betonung und Empathie, die sich rasch in sanfte Schlichtheit verwandelt, eine grandiose Leistung der wunderbaren Schauspielerin Lardi.
Lenin im Krankenbett: Ursina Lardi
© Thomas Aurin
Ein sachlich trockenes, aber hochkonzentriertes Theater
Es ist kein Geheimnis, dass Lenin ein Massenmörder war, selbst vor Inquisitionsritualen nicht zurückschreckend, die sein Sachwalter und Kampfgefährte Feliks Dzierzynski mit seiner Tscheka triumphal bewerkstelligte. Peter Sloterdijk hat das in seinem gut recherchierten, vielleicht wichtigsten Buch Zeit und Zorn genau dargelegt. Die nachrückenden Potentaten breiten die Foltermechanismen in der Inszenierung stellenweise genießerisch ausführlich aus. Es macht nun überhaupt keinen Sinn, Milo Rau vorzuwerfen, er behandle nur ein paar Tage: Er liefert ausreichend Zeitgeschichte, Rückblicke und Zukunftsblicke – das Theater wird wie ein Film inszeniert mit auf der Leinwand zu sehendem Vor- und Abspann, inklusive Credits. Der Regisseur hat die vermeintliche Ikone zu einem einfachen Menschen gemacht, er hat das Glorifizierungsobjekt unspektakulär vermenschlicht, bis es buchstäblich in die Eingeweide geht. Der Menschgott, über einsame Seelen bestimmend, als hilflose, in Agonie liegende Kreatur, entzaubert und auf verwesenden Opi-Status zurückgeschraubt. Bei Milo Rau ist das Ganze wie eine nachträgliche Abrechnung angesichts des einst Verehrten. Trotz aller Kritik: Es ist ein hochkonzentrierter Realismus, der nicht durch imponieren wollende Attitüden beeindruckt, sondern auf exakte, feinnervig ziselierte Gesten setzt und den Machtmenschen zeigt in all seiner Erbarmungslosigkeit und Kühle. Sich-Identifizieren, gar ein komplizenhaftes Bündnis eingehen mit irgendeiner Figur kann man nicht. Es dominiert eine sachliche Trockenheit, die dem Publikum einiges abverlangt. Aber es lohnt sich: Ein in Abrechnung einiger Abstriche großartiger Theaterabend.
Lenin
von Milo Rau & Ensemble
Regie: Milo Rau, Bühne und Kostüme: Anton Lukas und Silvie Naunheim, Video: Kevin Graber, Dramaturgie: Stefan Bläske, Florian Borchmeyer, Nils Haarmann, Live-Kamera: Florian Baumgarten, Moritz van Dungern / Omri Alon, Matthias Schoebe.
Mit: Ursina Lardi, Damir Avdic, Kay Bartholomäus Schulze, Nina Kunzendorf, Felix Römer, Lukas Turtur, Iris Becher, Veronika Bachfischer, Ulrich Hoppe, Konrad Singer.
Schaubühne Berlin, Premiere vom 19. Oktober 2017
Dauer: 120 Minuten
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)