Im tiefsten Untergrund: Jule Böwe ...

Im tiefsten Untergrund: Jule Böwe und Christoph Gawenda (Bild: © Katrin Ribbe)

Die letzte Menschlichkeit wird ausgehaucht

Die Bühne ist typisch Olaf Altmann. Er scheint sich immer wieder selbst zu kopieren, dabei sind es stets Variationen einer Ursprungsidee. Verschlossene Räume, das klaustrophobische Szenarium: Diesmal ist es eine schräg abfallende Kanalröhre, die, überzogen von einer klebrigen Flüssigkeit, als eine Rutsche fungiert, die quasi ein Vakuum darstellt. Und wie sie sich hochhangeln, um in einen Schacht zu gelangen, der nicht die geringste Hoffnung zulässt! Mit den letzten Kraftreserven klettern sie hoch ins "Freie", das nichts anderes darstellt als Abwesenheit und die Perpetuierung des erlebten Leidens, zumal sie beinahe magnetisch ins verwahrloste Übernachtungsheim zurückgezogen werden. Ein Entrinnen ist nicht möglich, und, am Boden des Blechkonstrukts, lauern nur braune Pfützen, in denen sich die Akteure aus Ungeschick oder Desperationsgründen wälzen. Unterirdische Schächte haben es Thalheimer ohnehin angetan, damit er einen verkrachten Menschenhaufen, eingepfercht in einen grauenvollen Mikrokosmos, in all seiner Verrohung darstellen kann. Für dieses Unterfangen hat Thalheimer die positive Vorlage des Originals geopfert: Luka (Tilman Strauß), der einzige Humanist bei Gorki, wird unter den Händen von Thalheimer zu einem egomanischen Sarkasten. Luka – nichts von Menschlichkeit, Mitgefühl und dem Ringen nach Seele. Bei seiner vorgefassten Absicht, die Welt als Dystopie zu entwerfen, lässt Thalheimer den letzten Vertreter einer positiven Gegenwelt fahren, um all den Rotz und Kotz in möglichst leuchtender Blüte zu präsentieren. Dies ist eine Ästhetik des Verfalls, für all die vulgär-progressiven Untergangsromantiker, die aus dem Grauen und der Müllkultur einen sublimen Genuss zu ziehen vermögen.

 

Alina Stiegler, Felix Römer

© Katrin Ribbe

 

Ein einziger Lügen- und Ellenbogenbetrieb

Eine Art Surrogat für Luka bildet der mit einer wollenen Zipfelmütze ausstaffierte Satin (David Ruland), der sich immerhin für die bedingungslose Wahrheit einsetzt wie jemand, der sich in seiner Jugend zu sehr in die Bibel vertieft hat. Dabei war selbst Jesus ein Lügner: Er gab aus strategischen Gründen an, nicht aufs Laubhüttenfest zu gehen, obwohl er doch ging. Wer in diesem Club auf Wahrhaftigkeit setzt, ist verloren – das Lügen ist ein Überlebensprinzip, der Ehrliche ein lendenschwaches Weichei. Dieses Theaterstück kann eigentlich nur durch exquisite Schauspielerleistungen in die Höhe getrieben werden, und das gelingt dann auch. Eva Meckbach als heruntergekommene Prostituierte ist dermaßen übertrieben geschminkt, als habe Thalheimer in Angelegenheiten der Maske Peymann um Rat gefragt. In ihr lodert noch ein Restfunken dessen, was man gewöhnlich als Seele bezeichnet wird, aber sie wird nicht entzündet und verkümmert. Felix Römer als versoffener Schauspieler legt einen grandiosen Auftritt hin, der in einer theatralischen poetischen Selbstinszenierung gipfelt. Doch das ist nur ein Schwanengesang, die Selbstabschaffungswünsche sind größer. Besser sich selbst richten, als von anderen gerichtet zu werden. Denn so geschieht es der zerbrechlichen Anna (Alina Stiegler) und auch dem Asylboss Kostylow (Andreas Schröders), der über den Umweg Asja Pepel (Christoph Gawenda) von der Tyrannin Vasilisa weggeräumt wird. Sie lässt sich von Asja auch mal von hinten nehmen und degradiert sich dabei zur Inkarnation einer wehrlos penetrierten Rosette, aber letztlich ist er für sie nur ein Werkzeug. Die Verdinglichungstheorie, also die Bewertung des Menschen nach seinem Nutzen und Wert, ist, so will es uns Thalheimer sagen, kein Phänomen des Kapitalismus, sondern hat seine Wurzeln im von dumpfer Animalität diktierten Untergrund, da, wo es keine Moral mehr gibt. Und die Zuschauer haben das behagliche Gefühl, sich als wesentlich besser zu wähnen, als sie vordem gedacht haben.

Nachtasyl
von Maxim Gorki
Fassung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens

Übersetzt von Andrea Clemen
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Nehle Balkhausen, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Bernd Stegemann, Licht: Erich Schneider.
Mit: David Ruland, Eva Meckbach, Felix Römer, Tilman Strauß, Jule Böwe, Christoph Gawenda, Ulrich Hoppe, Ingo Hülsmann,, Peter Moltzen, Lise Risom Olsen, Andreas Schröders, Alina Stiegler, Bernardo Arias Porras.

Schaubühne Berlin

Premiere vom 6. Juni 2015
Dauer: 90 Minuten, keine Pause


 

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