Jule Böwe und Renato Schuch

Jule Böwe und Renato Schuch (Bild: © Gianmarco Bresadola)

Am Anfang ist es noch die Lebensgier

Das gefilmte Bühnengeschehen erscheint auf einem großen Video. Dort kann man Jule Böwe als Eurydike in Großaufnahme sehen, ihre Mimik bis ins Infinitesimalste beobachten. Was mit Sehnsucht vermischte Leidensgesichter anbelangt, zeigt Böwe eine ungewöhnliche Variationsbreite. Dabei redet sie kein einziges Wort. Dafür sorgt Stephanie Eidt, als 68er-Jahrgang eine Königin im Konservieren ihres Äußeren, die eingeschlossen in einer Glaskabine sitzt und den Text von Eurydike spricht. Und das mit einer angeraut-sanften, emphatischen Stimme, die in den besten Augenblicken unter die Haut geht. Gut, Déjà-vu, wenn man an Ursina Lardi in For the diconnected Child denkt. Aber es sind etliche neue Nuancen hinzugetreten, die das Spiel von Jule Böwe sozusagen anfachen. Ihre Figur ist am Anfang noch sinnlich und den profan-irdischen Genüssen zugeneigt, bis sie sich ins Chthonische, Geistige und Ätherische abwendet. Innerhalb des Weltlichen schminkt sie sich gern, legt wert auf eine halbwegs gediegene Garderobe und lässt sich auch von Orpheus (Renato Schuch) ungestüm und umstandslos penetrieren, auch in einer der komplizierteren Stellungen. Abgesehen davon, dass Böwe sich in gymnastischer Form präsentiert und einen kleinen Happen für potentielle Erotomane abliefert – ihre Beine, Füße und ihr Busen sind im Großformat zu betrachten -, beweist sie Fingerspitzengefühl bei der Darstellung von Weltschmerz, von süßer bis dunkler Sehnsucht, die sich nach begierdeloser Reinheit verzehrt.

 

Eine Autofahrt, bis hinein in die ...

Eine Autofahrt, bis hinein in die Unterwelt (Bild: © Gianmarco Bresadola)

Das reine, von Begierden unabhängige Schreiben

Erfreulich ist, dass Jelinek diesmal nicht jelinekt, also auf sinnlosen Kalauer verzichtet. Es gibt noch Rudimente ("Ich bin kein Wesen mehr, auch nicht mehr wesentlich"), aber es dominieren eindringliche Textpassagen, die mit der Stimme von Eidt teilweise suggestiv wirken. Das Problem sind der forcierte Feminismus, mit der Jelinek den Frauen keinen besonderen Gefallen erweist, und die extrem plakative Gegenüberstellung zweier diametral entgegengesetzter Charaktere. Orpheus ist ein prollig angehauchter Frauenverbraucher, der in seiner metallharten Schwanzherrlichkeit keinen Sinn hat für feine Emotionen und die Sensibilität der immer geschlechtsloser werdenden "Geliebten". Und die will gar nicht mehr geliebt werden und auch nicht mehr lieben. Irgendwann beginnt eine Fahrt in den Orkus inklusive Liftboy. Der wird gespielt von Maik Solbach, der vornehmlich mit geisterhaft aufgerissenen, rollenden Augen agiert und Orpheus in der Unterwelt darauf hinweist, Eurydike nicht anzublicken. Natürlich hält er es nicht aus, zumal sich Eurydike, begleitet von leisen Ekelgefühlen, zunehmend von ihm distanziert. Nun, trotz kleiner textlicher Konzeptionsschwächen hat es Mitchell geschafft, eine zugleich betäubende und berauschende Atmosphäre zu schaffen. Dafür sorgt auch die synthiegestärkte Musik, die eine nicht geringe Gemütserregung hervorruft und tatsächlich das Untergangsfluidum steigert. Was Jelinek im Grunde anstrebt, ist ein Triumph der Literatur: Das reine, von Begierden unabhängige Schreiben als Lebenserfüllung. Das ist Metaphysik, da klingt Schopenhauer an! Statt die ewige Liebe im Jenseits wie bei Wagners Tristan und Isolde das zeitentrückte Schreiben. Vita contemplativa und literarische Daseinsdurchdringung mit allen Konsequenzen. Es ist vor allem ein sehr privates Stück. Katie Mitchell hat daraus einen überzeugenden Abend gemacht.

Schatten (Eurydike sagt)
von Elfriede Jelinek
Regie: Katie Mitchell, Mitarbeit Regie: Lily McLeish, Bildregie: Chloë Thomson, Bühne: Alex Eales, Kostüme: Sussie Juhlin-Wallén, Videodesign: Ingi Bekk, Mitarbeit Videodesign: Ellie Thompson, Sounddesign: Melanie Wilson, Mike Winship, Licht: Anthony Doran, Dramaturgie: Nils Haarmann.
Mit: Jule Böwe, Stephanie Eidt, Renato Schuch, Maik Solbach. Kamera: Nadja Krüger, Christin Wilke, Marcel Kieslich, Boom Operator: Simon Peter.

Schaubühne Berlin, Premiere vom 28. Oktober 2016
Dauer: 75 Minuten.

 

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