Autistische Schüler sind nicht automatisch behindert

Schüler mit autistischem Hintergrund werden oft benachteiligt. Obwohl viele von ihnen bei geeigneter Unterstützung in der Lage wären, den Schulabschluss oder gar das Abitur zu schaffen, sind rund achtzig Prozent der von frühkindlichem Autismus (Kanner-Syndrom) betroffenen Schüler gezwungen, eine Schule für geistig Behinderte zu besuchen. Diejenigen, die auf Regelschulen gehen (darunter auch Schüler mit Asperger-Syndrom, einer leichteren Variante des Autismus), bekommen dort im Gegensatz zu den Schülern mit Seh- oder Hörbehinderung jedoch keine sonderpädagogische Hilfestellung angeboten.

 

Pädagogische Sonderförderung ist vom Gesetzgeber verpflichtend vorgesehen

Bereits 1995 wurden durch die Kultusministerkonferenz Orientierungspunkte für eine adäquate sonderpädagogische Förderung unterschiedlicher Zielgruppen empfohlen. Im Jahr 2000 erfuhren Kinder und Jugendliche aus dem Autismus-Spektrum mit den ergänzenden "Empfehlungen zu Erziehung und Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten" erstmals besondere Aufmerksamkeit. Als Reaktion auf die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention knüpfte die Kultusministerkonferenz 2011 mit ihren "Rahmenbedingungen einer zunehmend inklusiven pädagogischen Praxis in den allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen" an die früheren Empfehlungen an. Im "Rahmenmodell der schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen" werden unter anderem folgende Kernbedingungen festgelegt:

  • Die Fördermaßnahmen erfolgen individuell und erfolgen unter Berücksichtigung der autismusspezifischen Besonderheiten.
  • Förderangebote in den Bereichen Kommunikation, soziale Interaktion, Interessen und Aktivitäten kommen gezielt zum Einsatz.
  • Der Umgang mit herausforderndem Verhalten erfolgt bewusst und basiert auf der Analyse von Verhaltensweisen. Bei Bedarf liegt ein Krisenkonzept vor.
  • Eltern werden als Experten gesehen und gleichberechtigt einbezogen.
  • Autismusspezifisches Fachwissen ist bei den Lehrkräften in ausreichendem Maß vorhanden.

Soweit die wohlmeinende Theorie. Doch wie ist es um die Professionalität der schulischen Fachkräfte wirklich bestellt?

 

Lehrer fühlen sich überfordert

Die Schule stellt auch für autistische Kinder die einzige Möglichkeit dar, später ein selbstbestimmtes Leben zu führen und einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu erhalten. Neben geeigneten Förderangeboten spielt die Qualität des Lehrpersonals eine entscheidende Rolle, ob die betroffenen Kinder dieses Ziel erreichen. Bereits 1988 wurde in einer Studie nachgewiesen, dass Lehrerinnen und Lehrer die kognitiven, emotionalen und entwicklungsmäßigen Besonderheiten von autistischen Schülern falsch einschätzen. Im Jahr 2010 - ein Jahr vor der Inklusionsoffensive der Kultusministerkonferenz - gaben sechzig Prozent aller Lehrerinnen und Lehrer in einer Befragung an, sie fühlten sich im Umgang mit autistischen Schülern überfordert. Dies wirft die berechtigte Frage auf, wie gut Lehrer in Deutschland auf autistische Schüler in ihren Klassen wirklich vorbereitet werden.

 

Die AFK Berlin legt Studie über das Wissen von Lehrern über Autismus vor

Die Autismus-Forschungskooperation (AFK) in Berlin ist ein Zusammenschluss von Menschen aus dem autistischen Spektrum und Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und der Freien Universität Berlin. Ziel der seit 2007 bestehenden Forschungskooperation ist es, erstmalig aus der Perspektive autistischer Erwachsener für autistische Menschen relevante Fragen gemeinsam zu erforschen.

In einer Studie untersuchte die AFK das Wissen Lehrerinnen und Lehrer mit und ohne sonderpädagogischem Schwerpunkt am Beispiel Berlins. Die Studie wurde anlässlich der Wissenschaftlichen Tagung Autismus Spektrum (WTAS) 2011 in Berlin vorgestellt.

An der Befragung haben teilgenommen:

  • Fünfundachtzig Lehrerinnen und Lehrer an vier weiterführenden Berliner Schulen, dreiunddreißig davon unterrichten an Schulen mit sonderpädagogischem Schwerpunkt.
  • Als Kontrollgruppe wurden neunundvierzig Personen aus der Allgemeinbevölkerung befragt.
  • Mit Hilfe eines speziell entwickelten Fragebogens wurden die Probanden nach ihrem Wissen über Autismus interviewt.

Es erfolgte eine statistische Auswertung der Fragebögen. Nach dem Ergebnis besteht an Berliner Schulen - und sicher auch in weiten Teilen der Bundesrepublik - Nachholbedarf an der Umsetzung des Rahmenmodells.

 

Das Wissen der Berliner Lehrer über Autismus ist mangelhaft bis ungenügend

Lehrerinnen und Lehrer an Berliner Schulen mit dem Schwerpunkt Sonderpädagogik verfügen entsprechend ihrer speziellen Ausbildung über mehr Kenntnisse in Bezug auf die Diagnosekriterien von Autismus als die Allgemeinbevölkerung und die Lehrer an Schulen ohne sonderpädagogischen Schwerpunkt. Allerdings fehlt ihnen - wie den anderen befragten Gruppen auch - das Wissen über die spezifischen Stärken autistischer Menschen. Gerade dieses Wissen über deren Kompetenz ist jedoch für die pädagogische Förderung autistischer Schüler ausschlaggebend. Auch die spezifischen Besonderheiten des Asperger-Syndroms sind insgesamt in allen befragten Gruppen so gut wie nicht bekannt.

Da besonders Kinder mit Asperger-Syndrom Regelschulen besuchen, wären gerade hier Kenntnisse über assoziierte Schwächen und Stärken der betroffenen Schüler wichtig und hilfreich. Die Studienergebnisse der AFK offenbaren hier noch einen erheblichen Mangel. Auch die deutliche Unterschätzung der Prävalenz von Autismus weist darauf hin, dass die Bedeutung von autismusspezifischen Lehrerfortbildungen von Seiten der Bildungsträger womöglich unterbewertet wird.

Durch eine Rückmeldung der Studienergebnisse an deutsche Schulen und Lehrer erhofft sich die AFK eine beschleunigte Sensibilisierung für die Bedürfnisse autistischer Schüler.

Tipps für den Schulbesuch autistischer Schüler

Mit dem Informations-Faltblatt "Autisten in der Schule – Mehr Wissen für einen erfolgreichen Schulbesuch" (http://www.autismus-forschungs-kooperation.de/projekte/wissen-ueber-autismus-bei-lehrern/31-faltblatt-ueber-die-ergebnisse-der-lehrer-studie) stellt die AFK Lehrerinnen und Lehrern einen Leitfaden zur Verfügung, der ihnen helfen kann, auf die Situation besser vorbereitet zu sein, wenn ein autistischer Schüler in die Klasse kommt. Der Flyer enthält Hinweise auf die besondere sensorische Empfindlichkeit und auf die mögliche motorische Ungeschicklichkeit autistischer Kinder. Darüber hinaus werden Empfehlungen zur Strukturierung des Unterrichtsablaufes gegeben.

 

Quellen:

  • www.autismus-forschungs-kooperation.de/
  • "Was wissen Lehrer in Berlin über Autismus", in 4. Wissenschaftliche Tagung Autismus-Spektrum, Tagungsband, 2011, S. 72, ISBN 978-3-87985-109-6
  • Theunissen, Kulig, Leuchte, Paetz (Hrsg.): Handlexikon Autismus-Spektrum. Verlag W. Kohlhammer, 2015

Bildnachweis: © Stephanie Hofschlaeger/Pixelio.de

Autor seit 10 Jahren
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