Ich sitze am Kamin und halte Zwiesprache mit den Flammen. Aber eigentlich mit mir. Aber schließlich auch nicht mit mir. Scoty, auf leisen Sohlen, schiebt sich zwischen mich und den gusseisernen Kamin, schaut mit seinem inzwischen grauen Schnäuzchen zu mir hoch, streckt sich lang nach vorn, so dass die Hinterbeine immer länger werden, streckt sich genauso nach hinten und streckt die Vorderbeine aus, dehnt sich weit, gähnt und plumpst zu Boden, steckt den Kopf zwischen die Vorderbeine, liegt da wie ein U-Boot – und ist eingeschlafen.

Der Einstein unter den Hunden

 Scoty, das ist ein inzwischen 16 Jahre alter Border Collie Mix – Mix deshalb, weil über den weißgefärbten Beinen und dem Brustkorb kein schwarzes, sondern ein braun-rot- blondes Fell in Lockenpracht glänzt. Scoty aus der Hunderasse, die man den "Einstein" unter den Hunden nennt. Denn sie sind – und Scoty ist nachgerade "sprechender Beweis" – nicht nur gelehrig; sie können gelerntes auch selbständig denkend umsetzen.

 Ich schaue in das Kaminfeuer, ich schaue auf das schlafende Tierchen zu meinen Füßen. Wie Teile eines Puzzles tauchen plötzlich Erinnerungen auf, verschmelzen miteinander, reihen sich aneinander:

Die Anzeige hing im Supermarkt

 Scoty, das war zunächst nicht mehr als eine Art Karteikarte an der Pinnwand des Supermarktes Migros in Lugano-Cassarate – unter anderem Namen. Der Zettel hing direkt hinter den beiden Kaffeemühlen auf dem Tisch hinter den Kassen, wo Kunden, die Kaffee in der Bohne gekauft hatten, ihr eigenes Kaffeepulver in unterschiedlicher Konsistenz mahlen konnten: "Espresso 1 oppure Espresso 2" beispielsweise. Unser Blick fiel auf den Zettel, und dort stand geschrieben: "Spoty, etwa ein Jahr alt, Border Collie Mix, sucht ein liebesvolles neues Zuhause. Näheres: Tierheim " Piano de la Stampa" Lugano…… Rifugio per animali.

 Gesehen, gesagt, getan: Zwei Tage später wurde "Spoty" vorgeführt. Er war ein aufgeregtes wildes schlankes Wesen, das wie ein Spotlight am Käfiggitter hoch und runter schoss, wild kläffend, dauernd in Bewegung. Er wollte da raus. Für 250 Schweizer Franken war er draußen.

Neue Freiheit selbstbewußt entdeckt

 Neu gewonnene Freiheit will entdeckt, will erobert, will in Besitz genommen sein. Da hat Spoty – weil der Name nicht gefiel, hieß er nun Scoty – ausgiebig und mit Nachdruck genutzt. Weil im neuen Heim, einem 300 Jahre alten renovierten Bauernhaus, ständig alle Türen aufzustehen pflegten, hatte Scoty freie Bahn. Zunächst verschwand er im Schlafzimmer und kam zurück, mühsam eine Bettdecke hinter sich herzerrend. Die suchte er zu schütteln – um ihr das Genick zu brechen. So, wie es die wilden Tiere im Urwald mit ihrer Beute tun. Die Unternehmung wurde vom Herrchen nachdrücklich gestoppt. Scoty, mit seinen lebhaften Augen die Umgebung musternd, suchte neues Betätigungsfeld. Dabei allerdings kam ihm etwas in die Quere. Also hockte er sich vors Herrchen und drehte einen kräftigen Haufen auf den Teppich. Dieses nun allerdings war auch nicht nach dessen Geschmack. Ein Spaziergang wurde angesetzt… Und dann noch einer, Herrchen lief sich im Lauf des Tages die Füße wund, und Scoty hatte sein Vergnügen dran.

 Ein Erziehungsprozess begann, in dessen Verlauf nicht immer klar war, wer Erzieher und wer Erzogener war. Manches geschah, wie es schon Thomas Mann in seinem "Herr und Hund" beschrieben hat. Beute im Haus geschüttelt hat Scoty später nur noch einmal: Das war, als ein kleines Mädchen zu Besuch kam und sein Püppchen achtlos auf dem Fußboden liegen ließ. Da konnte er nicht an sich halten, schüttelte das arme Ding, bis der Porzellankopf durch die Gegend flog. Den nahm er auf, klemmte ihn zwischen die Vorderbeine und übte das Dribbling in einiger Eleganz. Ganz so wie seinerzeit Stan Libuda – nur der hatte krummere Beine. Das aber ging nur einmal so, denn danach hat niemand mehr kleine Püppchen auf dem Teppich liegen gelassen.

Die Dusche ist ein gutes Versteck

 Es sind jetzt 15 Jahre mit Scoty. Im Haus hat sich einiges verändert. Regeln sind im Rentnerhaushalt eingekehrt; Das Tierchen achtet darauf: Morgens um neun Uhr, nachmittags um 15.30 Uhr und abends um 21.30 Uhr geht's raus an die frische Luft, bei Wind und Wetter, dann wird das Dorf umzingelt, die breite Treppe rauf zur Kirche ausgemessen und den anderen Hunden, nein Rüden, zumindest verbal Bescheid gegeben. Dann ist er der King – er glaubt es zumindest – mit wenigen Ausnahmen. Ist ein Gewitter im Anzug, dann verschwindet Scoty in einer Ecke; am liebsten in der Dusche, falls die Badezimmertür aufsteht.

Scoty kennt die Uhr genau

 Regeln: Zum Frühstück gibt's vegetarische Hundeknöchelchen; Abendfutter in einer Mischung aus Trocken- und Weichfutter abends um 19.30 Uhr. Scoty kennt die Uhr. Und wenn Herrchen einen dieser Termine verpennt, hockt der Hund vor ihm und schaut ihn an, penetrant, regungslos, vorwurfsvoll. Er hält sich seine Herrschaft.

 Das Kaminfeuer liegt in den letzten Zügen. Ein Aufflackern da und dort; eine kleine Flamme schlägt plötzlich ganz hoch und schmilzt dann wieder in sich zusammen. Scoty merkt, dass es um ihn herum kühler wird. Er erhebt sich, streckt sich nach vorn und nach hinten, gähnt, wirft dem Herrchen einen Gute-Nacht-Blick zu, strebt in sein Körbchen, dreht sich dreimal im Kreis, rollt sich zusammen, steckt die Schnauze untern Schwanz und schläft weiter.

Und am 23. Februar 2015 ist er für immer eingeschlafen.

 

 

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