Sophiensaele Berlin: Kritik von "Karamasow" – Thorsten Lensing
Premiere. In Dostojewskijs letztem Roman findet eine Gewichtsverlagerung statt: Wichtige Hauptfiguren fehlen, eine Nebenhandlung wird zur Haupthandlung, Kinder und Tiere triumphieren.Devid Striesow, Ursina Lardi (Bild: © Arwed Messmer)
Kluge und weniger kluge Kinder
Sebastian Blomberg agiert als der 13-jährige Nikolaj (Kolja) und ist verdammt frühreif. Er befindet sich bereits auf einer Reflexionsebene, die für sein Alter untypisch ist, zumal man es im Theater oder in Romanen gewohnt ist, dass Kinder dümmer dargestellt werden, als sie eigentlich sind, als seien ihre Schöpfer außerstande, sich in ein junges Gemüt hineinzuversetzen. In Blombergs Gesicht hängt bei seinen wenigen, aber umso einprägsameren Auftritten ständig ein Lächeln, das jederzeit in Zynismus umschlagen kann. Die Unschuld des Daseins – diese Formel trifft auf Blombergs Figur am wenigsten zu. Anders dagegen der 72-Jährige Horst Mendroch, der den 9-jährigen Knaben Iljuscha mit erwartbaren infantilen Einschüben hinlegt. Zu Beginn beißt Iljuscha dem gläubigen Aljoscha (Devid Striesow) in den Finger, weil dessen Bruder Iljuschas Vater (Rick von Uffelen) beleidigt hat. Ströme von Kunstblut fließen aus Aljoschas Hand und er wird vorstellig beim gesellschaftlich gebrochenen Vater, der, die bestehende Hierarchie wohl oder übel in Kauf nehmend, den Übeltäter in Schutz nimmt. Was kann Aljoscha dafür? Nichts, aber er ist ein Karamsow und wird in die Mittäterschaft gezogen (Vorsicht Sippenhaft!).
Das Ensemble
© Arwed Messmer
Ein stinkender Heiliger
In der ersten Hälfte, bis zur Pause wirkt das Stück zerfahren, es sind angerissene Themen mit kaleidoskopartigen Einsprengeseln. Einzelne Brocken werden hingeworfen, ohne dass eine konzeptuelle Linie zu erkennen wäre. Aus unerfindlichen Gründen verliebt sich Aljoscha in die erst 14-jährige, an den Rollstuhl gefesselte Lisa, die so gar nicht religiös ist und bei der sich eine innere Zerrissenheit bemerkbar macht. Die Figur der Helvetierin Ursina Lardi wird von einem inneren Feuer angetrieben, das sie verzehrt, oftmals verfällt Lisa in ein Schreien, bei dem die Töne wegrutschen und akustische Probleme auftauchen. Die zeitweise hinter einem Paravent steckende Lisa ist eine typische Dostojewskij-Figur und scheint ein verzerrtes Abbild der Súslova zu sein. Die stark auftretende Lardi arbeitet viel mit ihrem Gesicht, es ist in ständiger Bewegung und gerät mitunter ins Chargieren, wobei die Nuancen, die fein ziselierten Schattierungen verloren gehen. Einmal fordert sie von Aljoscha die totale Unterwerfung, ein andermal möchte sie gequält werden. Und wieder ein andermal hat sie sadistische Phantasien angesichts eines gekreuzigten Juden. Und David Striesow spielt seine Rolle souverän, demütig und gleichzeitig mit kraftvollen Aufwallungen. Der geistliche Mentor Starez Sossima (André Jung), Verkünder des Schicksals und selbsternannter Generalstellvertreter des heiligen Stuhls, würde seine von Menschenliebe durchtränkte Rede am liebsten von einem Berg herab predigen. Es bleibt die Tiefebene ohne chthonische Elemente und ein übler Leichengeruch. Warum können Heilige nur so stinken?
Sebstian Blomberg, Rik van Uffelen, Horst Mendroch
© Arwed Messmer
Am Ende kommt es zur Versöhnung
Vielleicht liegt es nur an der Macht der Gewohnheit – in zwei Stunden kann man sich auf einiges einstellen -, jedenfalls entsteht nach der Pause der Eindruck, es werde wesentlich besser gespielt, konzentrierter und verdichteter. Als habe das Ensemble nun zu sich selbst gefunden. Wie schon im ersten Teil spielt André Jung einen Hund, der dressiert und eigenwillig ist. Leider werden diese – durchaus lustigen – Szenen zu sehr ausgewalzt. Ernst Stötzner als Lisas Mutter hat genug Freiraum, um seine Begabung auszuspielen, er oszilliert zwischen Geifern und kühlem Raisonnement. Irgendwann ist für den schwindsüchtigen Iljuscha der Augenblick gekommen, sich unfreiwillig aus dem Staub zu machen. Lange in Agonie liegend erlischt ein einfaches Kinderherz in seinem Krankenlager – ein Arrangement von Stühlen – und wird weggetragen. Am Ende hat Aljoscha eine Runde um sich versammelt, bei der fast das gesamte Ensemble zusammensitzt. Wir werden uns alle erinnern, ruft Aljoscha aus, erinnern an den Toten und die Verbliebenen. Nun triumphieren Sentimentalität und Zusammenhalt und Zukunftsgewissheit – wir werden uns erinnern! Abschied und Aufbruch nicht ohne süße Wehmut, freilich mit etwas Kitsch, aber es ist ein wohltuender Kitsch. So gelingt am Ende des Dramas eine Versöhnung, wie auch der zweite Teil mit einigen Ungereimtheiten des ersten versöhnt.
Karamasow
nach Fjodor Dostojewski
Textfassung: Thorsten Lensing, Mitarbeit: Dirk Pilz
Regie: Thorsten Lensing, Bühne: Johannes Schütz, Kostüme: Anette Guther, Produktionsleitung: Eva-Karen Tittmann.
Mit: Devid Striesow, Ernst Stötzner, Sebastian Blomberg, André Jung, Horst Mendroch, Rik van Uffelen, Ursina Lardi.
Premiere: 4. Dezember 2014
Dauer: 4 Stunden, eine Pause
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)