Sophiensaele Berlin: Kritik von "Schwestern" – Frank Krug
Premiere. Der Regisseur Krug erarbeitet mit drei vom Down-Syndrom betroffenen Schauspielerinnen eine Inszenierung, die an Tschechow angelehnt ist. Aufbrechen, aber mit Lebensfreude!Juliane Götze, Nele Winkler, Rita Seredßus (Bild: © Sebastian Bolesch)
Die Zukunft liegt in der Gegenwart
Es ist eine Weile her, dass der Vorraum des Festsaals so brechend voll war. Das lockere Spiel der Down-Syndromler hat auch einige Größen aus der Theaterbranche angelockt. Im Grunde ist der Abend ein halbes Winkler-Familienfest. Allen voran Angela Winkler als Kinderfrau Anfissa, die auch singend ins Geschehen eingreift, ihre Worte hinhaucht vom einsamen Mädchen mit einem Mund, so rot wie Wein. Tatsächlich zieht Angela Winkler ihre Lippen nach, die nun so rot leuchten wie der dunkle Rebensaft. Neben der großen Schauspielerin agieren ihr Sohn Tammo als Andrej und ihre Tochter Nele als Mascha, die von Irina (Juliane Götze) und Olga (Rita Seredßus) komplettiert wird. Völlig unbefangen geht Nele Winkler ans Schlagzeug und beteiligt sich an der Musik des kleinen, am Rand sitzenden Orchesters, das wechselt zwischen zarten Tönen und einer bizarren Geräuschfülle, zwischen bedrückender Schwere und Aufbruchstimmung. Die Schwestern haben gewissermaßen die Zukunft in die Gegenwart hereingeholt. Indem sie das Kommende geistig antizipieren und vorahnen, wirkt es auf den unmittelbaren Augenblick ein.
Ausgelassener Tanz vor dem Wohncontainer
© Sebastian Bolesch
Eine seltene Ungezwungenheit
Es ist ein freies Spiel der Kräfte, das da auf der Bühne waltet. Es herrscht eine seltene Ungezwungenheit: Die Leichtigkeit des Seins. Der Unangestrengtheit des Spontanen – obwohl man weiß, dass die Performance einstudiert ist – haftet ein kleiner Zauber an. Dass Nele Winkler mitunter nicht weiter weiß und einige Stichwörter vom Souffleur vorgesagt bekommt, tut nichts zur Sache. Die Akteurinnen konterkarieren Tschechows eher lineare Erzählstruktur und reden von ihren Befindlichkeiten, ihren unvermittelten Bedürfnissen und Bangigkeiten. Nele Winkler verlangt es nach etwas Kraftvollem, das scharf die Kehle hinunterrinnt und sie in eine andere Gefühlslage versetzt: Ein Rausch, ein kleiner Schwips, dessen Eintreten sie halb stolz, halb verlegen verkündet. Während Andrej einen Kinderwagen, den er zuvor zusammengebaut hat, gemütlich vor sich hinschiebt, hüpfen die drei Schwestern ekstatisch zur Musik. Sie sind jetzt gänzlich losgelöst, beinahe entfesselt, und Juliane Götze ergeht sich im Headbangen, wie einst Jule Böwe in Falk Richters Schwestern-Inszenierung. Der Wohncontainer, in dem sich gelegentlich aufhalten, sieht im geschlossenen Zustand aus wie ein Zugwaggon, der für Moskau bestimmt ist. Aber sie werden niemals ankommen. Doch ist nicht gerade das Unterwegssein, der nie endende Hunger nach Leben ihr wahres Ziel? Die Erfüllung des Augenblicks? In dieser Hinsicht sind sie schon längst angekommen.
Schwestern
nach Motiven von Anton Tschechow
Künstlerische Leitung und Regie: Frank Krug, Choreografie: Davide Camplani, Bühne und Kostüme: Irina Schicketanz, Musik: Ketan Bhatti.
Mit: Juliane Götze, Rita Seredßus, Nele Winkler, Angela Winkler, Tammo Winkler.
Musik: Ketan Bhatti, Milian Vogel, Hannah Klein, Matthias Engler, Andreas Voss.
Sophiensaele Berlin
Dauer: ca. 80 Minuten, keine Pause.
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)