Die Schauspieler im Chor

Die Schauspieler im Chor (Bild: © Bernd Uhlig)

Eigenwillige musikalische Atmosphäre

Die Wiener Gruppe/Instrumentalisten

© Bernd Uhlig

 

Der Regisseur Marthaler lässt es aber nicht bei rechtsextremen Thesen bewenden, als Gegenpart werden jüdische Kompositionen gespielt, und das mit Hingabe. Der musikalische Leiter und Kontrabassist Uli Fussenegger hat Musik von verfolgten, vertriebenen und später vergasten Juden in Archiven aufgetrieben und sie für ein kleines Orchester umarrangiert. Die Wiener Gruppe steht nun auf der Bühne und spielt Kompositionen von Viktor Ullmann (mehrere), Ernest Bloch, Erwin Schulhoff, Józef Koffler, Szymon Laks und anderen. Ein KZ-Orchester ist allerdings nichts Neues, derartige Projekte sind schon in einigen Filmen zu sehen, aber Fussenegger schafft es, mit seinen seltenen Fundstücken und Bearbeitungen eine eigenwillige Atmosphäre herzustellen. Wenn man die Musik hört, ist es etwas anderes, als über den mitunter qualvollen Entstehungsprozess zu reflektieren. Nur sensible Geister denken an die Umstände, unter denen diese Musik entstanden ist.

 

Antisemitismus als UNESCO-Weltkulturerbe

Die Musik bildet quasi die Brücke, das Bindeglied zwischen den Sprecheinlagen. Zu Beginn taucht eine Kohorte uniformierter Putzfrauen auf, die den fiktiven Parlamentssaal entstauben. Die Akteure spielen in den Zuschauerrängen – der Rang ist von einer Folie überzogen – und die Zuschauer sitzen da, wo sich normalerweise die Bühne befindet. Die Raumpflegerinnen entblößen ihre Beine und zeigen sie sich gegenseitig, aber nicht, um stolz ihre Schönheit unter Beweis zu stellen: man hat noch keine knotig-erweiterten Venen. Im Zuge des Reinigungsprozesses werden auch einige Polit-Kasper, die sich in den Saal gemischt haben, vom Staub befreit. Ein Begrüßungspräsident (Clemens Sienknecht) erklärt den Antisemitismus zum UNESCO-Weltkulturerbe, obwohl sich die Organisation der Vereinten Nationen normalerweise um Bildung, Erziehung und Kultur kümmert. Die Zeiten haben sich geändert, zumal es jetzt einen Kaiser für Habsburg-Europa gibt. Ein Jubiläum angesichts der Befreiung der Konzentrationslager steht an, trotz der Tatsache, dass mittlerweile modernere Formen der Internierung existieren.

 

Solidarität der selbsternannten Demokraten

Verhaltene Reaktionen im Sitzungssaal

© Bernd Uhlig

 

Eine rundlich-kompakte Erscheinung (Josef Ostendorf) ergreift das Wort in einer äußerst sachlichen, bedächtigen Art und repräsentiert eine Rede von Dr. Karl Lueger, der als Wiener Bürgermeister Ende des 19.Jahrhunderts einige bedenkliche Ansichten äußerte. Er sah überall nur Juden, die einem förmlich die Luft abwürgten und ein "freies" Leben unmöglich machten. Auch heute noch steht ein Lueger-Denkmal in Wien, die Lueger-Straße wurde inzwischen umbenannt. Politiker im Sitzungssaal schütteln sich lange und ostentativ die Hände, der Leitspruch "Flamme empor!", wohl eine Solidaririsierungsformel, ertönt und verhallt. Doch dazwischen erklingt immer wieder die Musik, die wie ein Mahnmal auf das Gesagte wirkt und es gar widerlegt. Die Norwegerin Tora Augestad singt mit ihrem Mezzosopran operngemäß. Es ist müßig, auf die Langsamkeit, die Entschleunigung bei Marthaler aufmerksam zu machen. Marthaler-Kenner wissen daraus einen subtilen Genuss zu ziehen. Das letzte Drittel des Abends ist ganz konzertant, es gehört ausschließlich der Musik, und die Schauspieler lümmeln nur noch auf ihren Sitzen herum. Den Epilog bildet ein Chor, eine Reminiszenz an Mendelsohn-Bartholdy: "Wer bis an das Ende beharrt, wird selig". Die Schauspieler sind längst in den Gängen verschwunden, aber man hört noch ihren – leiser werdenden – Gesang.

Letzte Tage. Ein Vorabend
von Christoph Marthaler
Regie: Christoph Marthaler, Regiemitarbeit: Gerhard Alt, Musikalische Leitung: Uli Fussenegger, Raum: Duri Bischoff, Kostüme: Sarah Schittek, Lichtdesign: Phoenix (Andreas Hofer), Dramaturgie/Textcollage: Stefanie Carp.
Mit: Ueli Jäggi, Josef Ostendorf, Tora Augestad, Katja Kolm, Clemens Sienknecht, Carina Braunschmidt, Bendix Dethleffsen, Nelson Etukudo, Silvia Fenz, Thomas Wodianka, Bettina Stucky, Michael von der Heide.

Die Wienergruppe/Instrumentalisten: Uli Fussenegger, Michele Marelli, Julia Purgina, Martin Veszelovicz, Hsin-Huei Huang, Sophie Schafleitner.

Staatsoper im Schiller Theater Berlin

Berlin-Premiere vom 02. September 2014
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

 

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