Stephen King: Der Anschlag
Was wäre, wenn man das Attentat auf John F. Kennedy verhindern könnte? Stephen Kings Zeitreise-Thriller "Der Anschlag" gibt eine fesselnde Antwort auf diese Frage.Fesselnder Thriller "Der Anschlag"
Fällt der Name Stephen King, denken die meisten wohl unwillkürlich an seine Horrorromane. Zu Unrecht, denn das letzte Genrewerk "Duddits" datiert aus 2001, wobei King seit den späten 1980er Jahren dem Horror immer seltener seine Aufwartung machte. Inzwischen hat ihn sogar die Literaturkritik als ernsthaften Schriftsteller entdeckt, was er mit seinem Zeitreise-Thriller "Der Anschlag" eindrucksvoll belegt.
Sein neuer Roman heimste dem früher meist als "Schundautor" belächelten Amerikaner fast durchwegs positive Kritiken ein. Verständlicherweise, denn Stephen Kings "Der Anschlag" ist gleichermaßen fesselnder Thriller im Science-Fiction-Gewand, wie auch eine Abrechnung mit den konservativen USA der 1950er und 1960er Jahre.
Kann der Anschlag auf Kennedy verhindert werden?
Englischlehrer Jake Epping fristet seit der Scheidung von seiner alkoholkranken Ex-Frau ein ereignisloses Dasein. Lediglich manche der Aufsätze seiner erwachsenen Schüler im Rahmen des zweiten Bildungswegs erschüttern ihn noch. So wie jener des etwas zurückgebliebenen Harry Dunning, der in der Halloween-Nacht 1958 mitansehen musste, wie sein aggressiver Vater seine Mutter und seine Geschwister ermordete. Wenn er doch nur die Vergangenheit ändern könnte …
Zunächst glaubt er seinem Freund Al Templeton, dem ein Fast-Food-Restaurant gehört, nicht, als dieser behauptet, er könne in der Zeit reisen. In der Vorratskammer befinde sich ein Tor in die Vergangenheit, das zum 9. September 1958 zurückführe und jederzeit zur Rückkehr in die Gegenwart benutzt werden könne. Doch ein Test beweist Templetons unglaublich scheinende Behauptung.
Lee Harvey Oswald im Visier
Daraufhin eröffnet er Jake den Grund, weshalb er ihn in sein Geheimnis eingeweiht habe: Jemand müsse den tödlichen Anschlag auf John F. Kennedy am 22. November 1963 verhindern. Templeton selbst sei auf Grund seiner Erkrankung dazu nicht mehr in der Lage, weshalb er an den jungen Jake gedacht habe. Dieser solle an seiner Stelle statt Lee Harvey Oswald aufhalten, egal wie. Nach kurzem Zögern erklärt sich Jake bereit, obwohl er weiß, dass er mehrere Jahre lang in der ihm fremden Vergangenheit verbringen müsse, bis er dem damals noch in Russland lebenden Kennedy-Attentäter Lee Harvey Oswald begegnen und ihn beseitigen könnte.
Doch die Zeit ist "halsstarrig", wie Jake rasch erkennen muss: Jede gut gemeinte Änderung der Vergangenheit kann neuen, unbeabsichtigten Schrecken erzeugen. Zu allem Überfluss verliebt sich Jake in die hübsche, etwas tollpatschige Sadie und wird mit Entsetzen gewahr, dass er sie damit zur Zielscheibe der unberechenbaren Zeit macht …
Zeitreise ins erzkonservative Hinterland
Mit seinem Thriller "Der Anschlag" ist Stephen King endlich wieder ein ganz großer Roman gelungen, der nicht zufällig an sein Magnum Opus "Es" erinnert und offenbar im selben Universum wie sein Meisterwerk aus den 1980er Jahren spielt. Wieder einmal seziert Stephen King die erzkonservative Welt der 1950er und frühen 1960er Jahren, als es schandhaft war, sich als unverheiratetes Paar in einer Wohnung zu treffen, als Schwarze noch Neger hießen und eine eigene Parallelgesellschaft zu den Weißen bildeten, als Rock'n'Roll unter den Erwachsenen verpönt war und stochert in den zu Tage geförderten Wunden.
Die Prämisse des Romans ist natürlich klassische Science Fiction: Ein Zeitreisender erkundet eine ihm fremde Ära und löst alleine durch seine Anwesenheit allerlei Veränderungen aus, viele davon unbeabsichtigt. In Mark Twains 1889 veröffentlichten Roman "Ein Yankee am Hofe des König Artus" waren die Folgen komödiantischer Natur, während sechs Jahre später der namenlose Protagonist in H. G. Wells "Die Zeitmaschine" einen erschreckenden Blick in die düstere Zukunft der Menschheit wirft.
Seither bilden Zeitreisen ein eigenes Subgenre und sind nicht nur aus der Literatur, sondern auch aus dem Kino ("Zurück in die Zukunft", "Terminator", "12 Monkeys", "Die Frau des Zeitreisenden", etc.) nicht mehr wegzudenken. Rasch wird aber klar, dass Stephen King mit "Der Anschlag" keinen reinen Science-Fiction-Thriller, sondern ein Sittenbild der jüngeren Vergangenheit, eine bittersüße Romanze und zugleich einen sozialkritischen Roman in einem verfasste. Platz für all diese Ansinnen bietet der mehr als tausend Seiten dicke Wälzer reichlich.
Abrechnung mit Republikanern
So mancher Leser bemängelt den Umstand, dass das zentrale Element in Form des Anschlags auf John F. Kennedy über weite Strecken hinweg völlig in den Hintergrund gedrängt wird und lediglich den Aufhänger für einen scharfen Blick auf ein längst vergangenes Amerika bildet. Obwohl Stephen King 1947 geboren wurde und in den 1950er und 1960er Jahren aufwuchs und sozialisiert wurde, bleibt dieser Blick von jeglicher verklärter Nostalgie ungetrübt.
Früher, so sein Credo, war beileibe nicht alles besser, im Gegenteil: Die verlogene Bigotterie dieses höchstens noch in ultrakonservativen Rückzugsgebieten existierenden Amerika ist längst im Sog der Geschichte weitgehend verschwunden.
Der Anschlag |
Gerade die Prämisse selbst bietet Stephen King üppige Angriffsfläche für alles, was ihm verhasst ist: Republikaner, Rassisten, "Waffennarren", religiöse Fanatiker, idealerweise in Personalunion. Hierbei lassen sich durchgehende Motive von Kings frühesten bis zu seinen aktuellen Werken wie "Der Anschlag" finden. Der Protagonist ist meist Englischlehrer oder Schriftsteller bzw. Englischlehrer, der an einem Buch schreibt, und alles Üble ist in religiösen, gewalttätigen Spinnern versammelt, die ihre Frau und ihre Kinder verprügeln, an deren Heck des spritfressenden Heckflossenwagens Wahlsticker für republikanische Politiker kleben und die einem reinen, besseren Amerika im Wege stehen.
Das war in seinem ersten veröffentlichten Roman "Carrie" nicht anders und zieht sich wie der sprichwörtliche rote Faden durch fast alle seine Werke. Die streitbare Annahme lautet in diesem Fall: Wäre John F. Kennedy nicht ermordet worden, wären der Vietnamkrieg oder 9/11 nie geschehen.
Begegnung mit Lee Harvey Oswald
Glücklicherweise erkennt Stephen King die Naivität dessen selbst und lässt Protagonisten Jake Epping erkennen, dass sich die Geschichte nicht mittels eines Kunstkniffs in die Bahnen einer besseren Zukunft (bzw. Gegenwart aus Jakes Sicht) lenken lässt. Unentwegt schmeißt ihm die "halsstarrige Zeit" Knüppel vor die Füße, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Aber Jake hat sich in die Idee verbissen, mit der Verhinderung des Anschlags auf Kennedy die Geschichte neu zu schreiben. Nach dem Scheitern seiner Ehe braucht der Englischlehrer einen Hoffnungsstrohhalm, an den er sich klammern kann.
Spätestens wenn er mit der Bespitzelung und Beobachtung von Kennedy-Attentäter Lee Harvey Oswald beginnt, muss sich der Leser fragen, inwieweit sich Jake von den Gedankenmustern des fanatischen Kommunisten unterscheidet. Denn auf seinem Weg, die Vergangenheit zum vermeintlich Besseren zu wenden, geht Jake immer rücksichtsloser vor.
Stephen King: Begnadeter Geschichtenerzähler
Ob es Jake gelingt, Lee Harvey Oswalds tödliches Attentat zu verhindern, soll natürlich nicht verraten werden. Kein Geheimnis ist hingegen, dass Stephen Kings "Der Anschlag" ein Paradebeispiel für das Sprichwort "Der Weg ist das Ziel" darstellt. Bis Jake zum ersten Mal auf Oswald trifft, vergehen viele hundert Seiten. Jakes langsames Eingewöhnen an die Vergangenheit, der Aufbau eines Netzwerks aus Freunden, seine schicksalhafte Begegnung mit Sadie: All dies bildet zwar den Hintergrund zur eigentlichen Prämisse des Romans. Aber eben jenes nur scheinbare Nebensächliche weiß zu fesseln.
Hier spielt Stephen King seine wohl größte Stärke aus: Die des begnadeten Geschichtenerzählers. Geschickt spinnt er die Fäden für den weiteren Handlungsverlauf und lässt den Leser ein ums andere Mal ins Leere laufen, wenn dieser vermeint, er wüsste, wie der Hase laufe. In Punkto Charakterisierung macht ihm ohnehin kaum einer was nach, wenngleich die bereits erwähnte Simplifizierung einiger Figuren als gewalttätige, verrückte Republikaner arg klischeehaft wirkt. Seinem Lieblingsfeindbild gönnt er keinen Pinselstrich mehr, als den breiten Anstrich des verabscheuungswürdigen Menschenfeindes.
Schwächen des Thrillers
Als Schwachpunkte erweisen sich die mittlerweile in Kings Werken fast schon unvermeidbaren Selbstreferenzen, in diesem Fall an "Es", wenn sich Protagonist und Ich-Erzähler Jake in der unheimlichen Kleinstadt Derry kurz aufhält.
Für die weitere Handlung sind diese Passagen von keinerlei Bedeutung, weshalb sie wie Fremdkörper und ein Zugeständnis an seine Fans wirken. Ebenso überflüssig erscheinen einige der Begleitumstände der Zeitreise. Mit wenigen Ausnahmen - "Das Monstrum - Tommyknockers" mag als solche angesehen werden - wusste Stephen King mit Science Fiction nie allzu viel anzufangen und dies bestätigt sich in "Der Anschlag" einmal mehr sehr deutlich.
Der Anschlag |
Stephen Kings erster Anlauf
Deutlich fesselnder sind Jakes Betrachtungen der Welt von damals beschrieben, wobei deutlich wird, welchen ungeheuren Rechercheaufwand Stephen King für "Der Anschlag" betrieben hat. Im Nachwort erwähnt er, sich erstmals 1972 an der Umsetzung der Prämisse probiert zu haben, aber nur einige Seiten weit gekommen zu sein. Zu tief, so seine Worte, sei noch der Schock über das Attentat auf Kennedy gesessen. Zu vermuten ist allerdings, dass der junge King mit dem Projekt überfordert war und es deshalb auf Eis legte, wie dies bereits bei der Urversion zu "Die Arena" der Fall gewesen war.
Typischer neuer Stephen King: "Der Anschlag"
Mit seinen früheren Werken ist ein ausgefeilter Roman à la "Der Anschlag" kaum noch zu vergleichen. Der "Schundautor" King, dessen Geschichten über Vampire in der Nachbarschaft, besessene Plymouth Fury, bösartige Häuser oder einem Killerclown als das personifizierte Grauen bei den meisten Kritikern Migräneanfälle auslösten, ist längst Vergangenheit. Dies kann man bedauern oder auch nicht. Den Kritikern entlocken seine Spätwerke jedenfalls viel Lob, das noch Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre.
Den "alten" King, dessen Oeuvre von Lovecraft, Ray Bradbury und "Geschichten aus der Gruft" beeinflusst war, gibt es nicht mehr. Doch so lange uns der "neue" King mit ausgereiften Werken im Stile von "Der Anschlag" verwöhnt, mag dies über die Absenz von Untoten oder dämonischen Wäschemanglern hinwegtrösten. Schließlich kann uns diese unterhaltsamen Romane und Kurzgeschichten niemand mehr wegnehmen.
Es sei denn, Stephen King reiste höchstpersönlich in die Zeit zurück. Irgendwie würde man das einem Mann, der so völlig unterschiedliche Romane wie "Duddits" und "Der Anschlag" schrieb, durchaus zutrauen.
Originaltitel: 11/22/63
Autor: Stephen King
Veröffentlichungsjahr: 2011 (USA) bzw. 2012 (Deutschland)
Verlag: Heyne
Seitenanzahl: 1.056 Seiten (gebundene Ausgabe)
Ungekürztes Hörbuch: Als Download bei Audible erhältlich.