Tischgespräche

 

 

Wer erklärt, "Forelle blau" schmecke für ihn orange, macht nicht unbedingt einen Scherz. Sollte in der Tischrunde nun jemand entgegnen, das nicht beurteilen zu können, für ihn sei sie aber eindeutig zu kantig, so muss sich das keineswegs auf zu viele Gräten beziehen. Hier tauschen sich zwei Synästhetiker über ihre speziellen kulinarischen Wahrnehmungen aus. Gut möglich, dass der begleitende Wein blau schmeckt beziehungsweise sich im Mund wie ein grob gestrickter Pullover anfühlt.

Bei Synästhesie sind unterschiedliche Sinneseindrücke miteinander verknüpft. Im geschilderten Beispiel verbinden sich bei der ersten Person Geschmacksempfindungen stets mit Farbeindrücken, während bei der zweiten Person zum Geschmack taktile Gefühlseindrücke hinzukommen.

 

Bunte Welt der Wörter und Zahlen

 

Die häufigste Form der Synästhesie sind Farbeindrücke beim Hören, Sprechen, Lesen und Schreiben von Wörtern, Buchstaben oder Zahlen. Dabei muss die synästhetische Farbe überhaupt nichts mit der tatsächlichen Farbe eines Objektes zu tun haben. Die Person sieht zum Beispiel einen Elefanten so grau wie jeder Nicht-Synästhetiker. Das Wort "Elefant" dagegen kann rot sein oder grün oder gelb, zufällig auch tatsächlich grau. Jeder Synästhetiker hat seine individuellen synästhetischen Farbeindrücke. Diese sind übrigens für das ganze Leben feststehend. Nicht nur Nomen sind betroffen, sondern jedes Wort. So kann zum Beispiel "sind" gelb sein, "ich" weiß, "bis" blau und "kein" rot. Gleiches gilt für Zahlen, wobei bei größeren Zahlen oft Gruppenfarben auftreten. Während also Einer wie "2" in Grün oder "8" in Blau erscheinen, können die Zwanziger komplett in Grün erscheinen und die Achtziger in Blau und entsprechend in Hundertern, Tausendern und so fort. Oft sind die ganz hohen Zahlen nur noch wie ein Brei in einer stets einheitlichen Farbe.

 

Bei Wörtern konnte ein klarer Zusammenhang hergestellt werden zwischen den darin enthaltenen Buchstaben und deren Farben, wobei im Allgemeinen die Anfangsbuchstaben die Wortfarbe maßgeblich beeinflussen. Beim Beispiel mit dem Elefanten in Rot ist für den betroffenen Synästhetiker auch der Buchstabe E rot. Außerdem sind F und N rot belegt. Dass das A diesem Synästhetiker stets gelb erscheint und das L und T grün sind, tritt beim farblichen Wortresultat zurück.

ABC auf Synästhetisch (Bild: Gerd Altmann / pixelio.de)

 

Anders ist es beim Wort "Eis". Egal, ob es Vanille-, Erdbeer-, Pistazien- oder Schokoladeneis ist: Für diesen Menschen ist "Eis" als Wort rot, während er es gleichzeitig in seiner natürlichen Farbe gelb, rosa, grün oder braun sieht und es sich schmecken lassen kann. Genau genommen hat sein rotes Wort hier noch einen kleinen weißen Klecks obendrauf, der vom I kommt, das für ihn leuchtend weiß ist. Ein anderer Synästhetiker sieht das Wort Eis wieder in seiner eigenen Farbe – das kann Gelb sein oder blau-grün gestreift. 

Damit ist es nicht genug, denn auch in der Synästhesie gibt es die berühmten Ausnahmen von der Regel. So haben Synästhetiker für bestimmte Begriffe Farbeindrücke, die nicht mit den im Wort auftretenden Buchstaben im Zusammenhang stehen. Dies ist vor allem bei Wochentagen und Monatsnahmen der Fall. So kann Montag also grün sein, obwohl er "normal" rot sein müsste. Das Wort "Montage" von "montieren" dagegen ist tatsächlich rot – wie es sich gehört, oder bei einem anderen Synästetiker gelb, während sein Montag violett ist. Außerdem wird "Montage" hier anders ausgesprochen als die "Montage" von "Montag".

 

Wo und wie sehen Synästhetiker ihre Farben?

 

Die Farben der Objekte an sich sehen Synästhetiker so wie Nicht-Synästhetiker. "Ihre" speziellen synästhetischen Farbeindrücke hingegen nehmen sie anders wahr. Viele von ihnen nehmen diese Farben auf einer Art innerem Bildschirm wahr, lokalisieren diesen aber auch oft außerhalb ihres Körpers wie schräg oberhalb ihres Kopfes und nennen dabei meist Circa-Entfernungen von plus-minus drei Metern. Oft jedoch verläuft diese Empfindung automatisch. Nur bei bewusster Beachtung lassen sich diese separaten Eindrücke dort lokalisieren. Dabei stehen stets beide Farbeindrücke für sich, geraten nicht durcheinander oder werden verwechselt. Es läuft praktisch auf zwei Kanälen ab.

Die Farben selbst erscheinen dabei gern ähnlich leicht geschwungenen Bändern. Sie können kompakt sein, aber oft auch pastellig oder sogar transparent. Sogar Strukturen sind bei diesem Phänomen normal. So kann eine Farbe eine Oberfläche wie Stoffgewebe, Sand oder Metallicglanz haben.

Ton-Farb-Synästhetiker

 

Ebenfalls nicht selten bei Synästhetikern sind Farbeindrücke bei Geräuschen wie Musik, Stimmen oder auch bei ordinärem Krach. Während bei manchen "nur" Klavierspiel als warmes Rot empfunden wird und Flötentöne als hellblaue Perlen, erleben manche bei Kompositionen ein regelrechtes Farbtheater. Da schwingen sich rosafarbene Bänder um grüne senkrechte Linien oder goldene Kugeln tanzen aus dem Lautsprecher. Der Hund bellt blau und der Baustellenlärm ist gelb.

Wonach klingt Rosenduft? (Bild: BlickundKlick / pixelio.de)

Wer sich mit der unter Synästhetikern weitverbreiteten Farbsynästhesie befasst hat, tut sich hiernach vermutlich leichter, sich die anderen synästhetischen Erlebenswelten vorzustellen. Schließlich existieren fünf Sinne: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten. Sie alle können sich verknüpfen: Schmecken und Tasten – wie beim Beispiel mit der kantig schmeckenden Forelle oder dem "gestrickten Wein".

Hören und Riechen: Die neue CD von Amy Winehouse riecht nach Karamell, auch wenn manch einer dazu einwerfen mag, die müsse doch nach harten Drinks riechen und am besten auch schmecken. Synästhesie nimmt auf so etwas keine Rücksicht und kein Synästhetiker kann sich seine Eindrücke aussuchen. Da kann der Name Adolf Hitlers in der Lieblingsfarbe erscheinen und das Bild der Mona Lisa nach Erbrochenem riechen. Leider. Bei Tasten und Schmecken wiederum berührt jemand beispielsweise realen Cordsamtstoff und bekommt dabei einfach so einen Pfefferminzgeschmack im Mund. 

Als Unterformen der in diesem Artikel näher erläuterten Formen der sogenannten genuinen Synästhesie gibt es außerdem die Gefühlssynästhesie und die metaphorische Synästhesie, wozu es hier genauere Ausführungen gibt sowie noch mehr rund ums Thema.

Ist Synästhesie eine Behinderung oder gar Krankheit?

 

Immer wieder werden Synästhetiker gefragt, ob sie ihre Sinnesverknüpfungen nicht irritieren oder sogar stören würden. Dies ist keineswegs so, eher im Gegenteil. Ein Synästhetiker selbst möchte auf seine erweiterte Wahrnehmung nicht verzichten. Anders kennt er das Leben ja auch gar nicht. Dazu ist zu sagen, dass Synästhesie automatisch mitläuft. Bei hoher Konzentration wie beim Arbeiten, intensivem Lesen und erst recht bei schriftlichen Prüfungen tritt die Synästhesie sozusagen in den Hintergrund. Es ist nicht so, dass ein Prüfling vor bunten Zeilen sitzt, die ihn ablenken und schlechter abschneiden lassen. In entspannteren Situationen oder bewusstem Heranlassen der zusätzlichen Empfindungen sind die Phänomene deutlich. Nicht jeder Betroffene hat gleich starke Wahrnehmungen. Bei manchen ist es ausgesprochen intensiv, bei anderen schwächer, eventuell sogar nur in Grauabstufungen und lediglich in einem bestimmten Sektor wie Wörter, aber keine Zahlen. Für einige wenige Menschen allerdings kann Synästhesie eine Behinderung darstellen, wenn sie extrem stark ausgeprägt ist.

Es kann zu ernsthaften Schulschwierigkeiten kommen, wenn als falsch empfundene Farben für Buchstaben oder Zahlen das Lernen erschweren oder aufgrund von als quälend erlebten Lichtreizen und Geräuschen Musikveranstaltungen oder Disco-Besuche ausfallen müssen. Selbst wenn Letzteres auch von Nicht-Synästhetikern gelegentlich beklagt wird, so bedeutet es für Extrem-Synästhetiker praktisch Folter. Ebenso haben sie Orientierungsprobleme in lebhaftem Straßenverkehr, besonders bei Dunkelheit mit Straßen- und Signalbeleuchtung. Zum Glück sind derartige Beeinträchtigungen bei Synästhetikern die Ausnahme.

 

Disco-Laser (Bild: uNi alias abgboy / pixelio.de)

Ein kleines Handicap sind höchstens eine häufigere Geräuschempfindlichkeit sowie gelegentlich vorhandene Aufmerksamkeitsdefizite. Auffallend dagegen ist das große Kreativitätspotenzial zahlreicher Synästhetiker. Viele sind außerordentlich musikalisch, talentierte Kunstmaler oder Autoren. Ebenfalls konnte ein deutlich über dem Durchschnitt liegender Anteil Hochbegabter nachgewiesen werden. Bei ihren Treffen untereinander kommen Synästhetiker schneller miteinander ins Gespräch und fremdeln bei Neukontakten weniger, als dies sonst bei größeren Gruppen mit Unbekannten der Fall ist. Es besteht offenbar eine besonders intensive Seelenverwandtschaft

Im Alltag und beim Lernen können synästhetische Eindrücke sogar als Merkhilfen genutzt werden wie zum Beispiel bei Namen, Telefonnummern, Formeln oder Vokabeln.

Ein typischer synästhetischer Lebenslauf

 

Eine große Zahl Synästhetiker kann eine ähnliche persönliche Geschichte zu ihrem Leben mit verknüpften Sinnen berichten: 

Meistens sind sie sich schon in der Kindheit ihrer Synästhesie bewusst, auch wenn sie die Bezeichnung für diese spezielle Wahrnehmungsweise noch nicht kennen. Es kommt vor, dass sie "ihre Farben" mit denen anderer Kinder vergleichen möchten, damit aber fast immer auf Unverständnis stoßen. Werden sie größer, bleibt es nicht beim bloßen Nichtverstehen der Umwelt. Stattdessen kommen Rückfragen, ob sie Drogen genommen hätten, den anderen auf den Arm nehmen wollten, oder sie bekommen den Rat, mal einen Arzt aufzusuchen, worin die Andeutung einer Halluzination oder Schlimmerem oft enthalten ist. Selten bleibt es bei der Aussage, so etwas nicht zu kennen und anschließendem Desinteresse anstelle von interessiertem Nachfragen. Die Stimmung kippt eher ins Aggressive um, bestenfalls wird ein Nichternstnehmen der Sache signalisiert. So erzählen Betroffene bald nichts mehr. Stets aber wissen sie genau, dass ihre Empfindungen alles andere als Halluzinationen sind, ebenso merken sie aber auch, dass nur wenige Menschen dies teilen.

Läuft alles gut, so lesen oder hören Synästhetiker eines Tages über "ihr Ding" in den Medien. Es bedeutet für sie eine Erlösung und wird für sie zu einem jener Tage, die sie nie vergessen werden. Endlich haben sie einen Namen für das Ganze und endlich können sie sich mit Menschen austauschen, die das selbst kennen! Denn die Berichte enthalten normalerweise Namen von Wissenschaftlern, die sich damit befassen. Dies können zum Beispiel Ärzte an einer Universitätsklinik sein wie der MHH - Medizinische Hochschule Hannover. Dort können sich Betroffene melden, um sich untersuchen zu lassen. Ansprechpartner sind Dr. Markus Zedler sowie der inzwischen emeritierte, aber dem Projekt weiterhin eng verbundene Professor Hinderk Emrich. Bei positivem Befund können sie sich für Forschungszwecke inklusive Doktoranden zur Verfügung stellen. Mindestens einmal im Jahr findet in Hannover das Synästhesie-Café statt, zu dem deutschlandweit und aus dem angrenzenden Ausland die Synnies – wie sich Synästhetiker gern nennen – anreisen.

Ist Synästhesie erlernbar?

 

Leider nicht. Sie ist angeboren und wird offenbar vererbt, da familiäre Häufungen auftreten. Wer meint, sie dann wohl nicht zu haben, sollte dennoch ruhig mal in sich hineinhorchen beziehungsweise hineinspüren. Es hat sich gezeigt, dass einige Personen sich zunächst nicht ihrer Synästhesie bewusst waren, weil sie ihnen so normal erschien. Sie setzten sie dazu bei allen Menschen voraus und hinterfragten das nie. Schließlich gibt es ja auch Redewendungen von "hellen" oder "dunklen" Tönen in der Musik. Also: Ist da nicht doch etwas? Im Verdachtsfall hilft die Medizinische Hochschule Hannover gern mit Tests weiter.

 

Lichter der Nacht (Bild: pixabay)

  

Einbildung ist Synästhesie nicht, auch kann sie nicht simuliert werden. Sie kann klar über neurologische Untersuchungsverfahren identifiziert werden. Bei Vergleichsuntersuchungen mit Nicht-Synästhetikern zeigen sich signifikante Unterschiede im Gehirn.

 

Während früher die Synästhesie für extrem selten gehalten wurde in Relationen von 1 : 1000 oder noch seltener, so konnte inzwischen ein stärker verbreitetes Auftreten nachgewiesen werden von vermutlich 1 : 50 bis 1 : 25. Das Verhältnis Frauen : Männer beträgt statistisch zurzeit 7 : 1, wobei Zweifel an diesem Verhältnis bestehen. Möglicherweise beachten Männer ihre Synästhesie einfach nur weniger beziehungsweise sind Frauen stärker interessiert, sich hierüber mitzuteilen.

 

Wie denken Sie über Synästhesie?

Schlussbemerkung

 

Die Autorin dieses Artikels ist selbst Synästhetikerin in der gewöhnlichen Variante der Farbeindrücke von Wörtern, Buchstaben, Zahlen sowie Tönen einiger Musikinstrumente wie Klavier mit Rot oder Flöte mit Hellblau. Bei den in diesem Text geschilderten Beispielen der Farben von Wörtern und Zahlen hat sie ihre persönlichen Farben genommen. Den Lebenslauf kann sie mitunterschreiben, wurde vor rund 15 Jahren durch einen Stern-Artikel aus ihrer synästhetischen Einsamkeit erlöst und kennt seitdem die Bezeichnung für diese Form der Eindrücke.

 

Wer noch nicht genug hat, darf hier weiterlesen

Die Synästhesie bezeichnet hauptsächlich die Kopplung zweier oder mehrerer physisch getrennter Bereiche der Wahrnehmung, etwa Farbe und Temperatur, im engeren Sinne die Wahrnehmung von Sinnesreizen durch Miterregung der...
Textdompteuse, am 03.12.2011
18 Kommentare Melde Dich an, um einen Kommentar zu schreiben.


Bildquelle:
EmbryoScope am Kinderwunschzentrum Ulm (Schwanger werden! Interview mit dem Leiter des Kinderwunschzentrums...)

Laden ...
Fehler!