Feier im Paradies

© Steffen Kassel

 

Ein bizarres Bild

Da die Veranstaltung erst um 21 Uhr anfangt, wird es rasch dunkel. Wir gehen durch den Görlitzer Park, gehen durch enge abschüssige Waldpfade, die nicht sonderlich malerisch sind, es sei denn, aus üppigen Wurzelgeflechten, die auch als Stolperfallen fungieren, lassen sich biologisch-poetische Gefühle entlocken. In einer kleinen Hütte an der Lohmühlenstraße wird Rast gemacht angesichts einer Performance, die mehr zur Überbrückung gedacht scheint. Dann geht es weiter auf verschlungenen Wegen, und eins ist von nun an klar: Wegen des Orientierungsverlusts ist eine Umkehr unmöglich, wir sind auf Gedeih und Verderb den Schauspielern ausgeliefert, wie die Flüchtlinge den Schleusern. Wir Zuschauer sind quasi durch die Performance in die Rolle von Flüchtlingen gerutscht – aber stellt sich dadurch die erwünschte Empathie ein? Während wir nach Anleitung durchs verwinkelte Grün streifen, tauchen immer wieder romantisch gesinnte Flaneure auf, die uns für eine spiritistische Vereinigung oder eine Bibel-Gruppe halten. Irgendwann erreichen wir das Schiff und stechen in den Landwehrkanal. Ein Trupp schwarzer Schauspieler – sie stammen aus Afrika und warten auf ihr Asylverfahren – singt den schwäbischen Volksklassiker "Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus/ Und du, mein Schatz, bleibst hier?" Vertauschte Rollen, die ein bizarres Bild ergeben.

 

So unbequem wie möglich

Die Bootsfahrt ist langwierig und zähflüssig, als hätten die Veranstalter alles dafür getan, es den Zuschauern so unbequem wie möglich zu machen. Zusammengepfercht in einem kleinen Schiff mit spärlichen Sitzgelegenheiten, muss man eben schon ein bisschen leiden, um sich in die authentische Lage der Flüchtlinge hineinversetzen zu können. Der Kahn trudelt gemächlich durchs Wasser und wir hören die Stimme eines Schauspielers durch den Lautsprecher. Ein Leidensweg der Flucht, von Mali nach Algerien bis nach Libyen, eine Flucht, die, euphemistisch gesprochen, von Rebellen behindert wurde und schließlich nach einem Schiffbruch in Sizilien endete. Erstes Mitgefühl steigt empor: Wie kann man einen Menschen, der so viel durchgemacht hat, einfach gnadenlos abschieben? Weniger Mitgefühl empfindet man, als Videos von Kongo-Müller an die Brückenwände geworfen werden. In seiner Absurdität ist dieser Söldner eine Karikatur der Vorrangigkeit des Westens, die alles andere als niedere Kulturstufe abwertet.

 

Die über Leichen gehen

Wir fahren vorbei an verliebten Pärchen, an verstreuten Party-Gängern, die auf Brücken oder am Ufer sich erst richtig für die Nacht präparieren. Ein Schiff wird gefeiert und merkt es nicht. Die Insassen gehen auf Winkereien und Kommunikationsangebote von außen kaum ein: Hier ist die vita contemplativa unterwegs, Leute, die sich in geistigen Notsituationen auch von einer Ästhetik des Verfalls inspirieren lassen. Nach der neunzigminütigen Bootsfahrt kommt noch ein letzter Marsch durch Bahngleise und Geröll, begleitet von kleinen Performances, die keine unterhaltsame Funktion haben, sondern eine ohnehin vorhandene apokalyptische Stimmung steigern. Absolutes Niemandsland, erinnernd an ein verwildertes Industriegelände. Schließlich geht es eine steile Radikalböschung hoch, die für Menschen mit Knieproblemen nicht zu empfehlen ist. Oben unfallfrei angekommen, gehen wir in einem Raum über schwarze Leichen. Die Botschaft ist relativ eindeutig: Das sind die auf der Strecke gebliebenen Flüchtlinge, und nicht: Die Weißen, die über Leichen gehen. Wir sind im Paradies angekommen, so vermitteln es uns die Schauspieler. Wir befinden uns in einem idyllischen Garten, umfangen von Zierpflanzen und einer Disko-Kugel. Ein Schauspieler erklärt die Sachlage: Kein Wunder, dass es Ihnen jetzt so gut geht, denn Sie waren tot und leben nun wieder, es ist das Paradies. Die Flüchtlinge sind angekommen, es wird freudig getanzt, auch mit Pferdemasken. Die Zeit hat aufgehört, eine Rolle zu spielen. Es ist mittlerweile 0 Uhr 15, die Leute werden ausgespuckt in den gänzlich unpoetischen Neuköllner Nachthimmel, wo sie noch eine Weile bis zur S-Bahn Sonnenallee marschieren müssen. Die Veranstaltung ist anstrengend, aber aus der Retrospektive wird so einiges verklärt. Letztlich ist sie trotz aller Beschwernisse ein kleines Erlebnis, ein mutiges, interessantes, aber leider auch ergebnisloses Projekt.

Herz der Finsternis.
Theater der Migranten
Konzept und Regie: Olek Witt, Bühne und Kostüme: Hendrik Scheel, Dramaturgie: Steffen Neupert.
Mit: Martin Moukodi, Oumar Aghali, Seyni Maiga, Abidal Bance, Ismael Ouedraogo, Richard Djif, Harber Sacko, Peguy Takou Ndie, Soni Taskiner, Tiemoko Sangare, Mohammed Darbouka, Parwez Akburi, Sam Shahmansoori, Hossein Hosseini, Amir Naderi, Genifer M. Habbasch, Ursula Wolschendorf und Jutta Armgard.

Premiere vom 24. Juli 2015

Kooperation mit Heimathafen Berlin
Dauer: 3 Stunden, 15 Minuten, keine Pause

 

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