In der Gefrierzone

Christoph Marthaler in Grönland

© Theater der Zeit

Zu den bekannteren Werken gehört +-0 (Ein subpolares Basislager). Nach einigen Gläsern Wein kam Marthaler auf die Idee eines Grönland-Projekts, in Koproduktion mit den Wiener Festwochen, und schon bald brachen der Meister und Anna Viebrock in die Eiswüste auf, um die Gegend zu erforschen. Nach der Expedition wurde zunächst in der Hauptstadt Nuuk gespielt, und nicht in Kopenhagen. Seelische Erregungszustände angesichts des Lagerzustandes blieben aus und bei den Aufführungen waren die einheimischen Zuschauer leicht irritiert. Bei den Wiener Festwochen hingegen wurden kulturelle Parallelen gezogen, das Publikum erwartete Lichtblicke und neue Perspektiven. Was Marthaler verschweigt, sind einige einschläfernde Sequenzen und die Mühe, das Auditorium bei der Stange zu halten. Leider findet sich in dem Buch Selbstkritik selten. Schon früh unternahm Marthaler mit seinen Schauspielern Erkundungsreisen, ein Tonbandgerät im Gepäck, dessen Aufnahmen später in die Inszenierungen Eingang fanden. Bei "Ribble Bobble Pimlico" (1988) mit der damals noch blutjungen Anne Tismer und Graham F. Valentine wurde nach etlichen Vorstudien in England ein Schwitters-Stück vorgelegt.

Schauspieler in den Parlamentarierbänken

Das Buch ist stark bebildert, neben dem Meister finden sich vor allem Fotos von Ueli Jäggi, Jürg Kienberger, Bettina Stucky und Sasha Rau. Gegen Ende sind auch einige Bilder der später zum Team gestoßenen Katja Kolm dabei, die demnächst in "Tessa Blomstedt gibt nicht auf" (Premiere am 15.10.14 in der Berliner Volksbühne) zu sehen sein wird. Ein Unternehmen größeren Umfangs ist gewiss "Letzte Tage. Ein Vorabend" im historischen Sitzungssaal des Wiener Parlaments (2013). Die Musik steuerte Uli Fussenegger bei, der Kompositionen von emigrierten oder deportierten Juden verwandte. Die Schauspieler agierten in den Parlamentarierbänken und die Zuschauer nahmen die Rednerplätze ein. Reden des damaligen antisemitischen Bürgermeisters wurden eingeflochten in einem noch benutzten Raum ohne Bühnenbild. Themen waren die antisemitische Bewegung vor dem 1.Weltkrieg und aktuelle nationalistische, fremdenfeindliche Tendenzen. Begleitet von Instrumentalmusik, kamen europäische Vertreter rechtsradikaler Konzepte zu Wort. Ebenso ehrgeizig war das Projekt "Das Theater mit dem Waldhaus" in Sils-Maria (2008). Etwas Großes sollte es sein, in einem Refugium für erholungsbedürftige Kulturschaffende. Ob in den repräsentativen Hotelräumen, im Keller, in der Garage oder in der Tennishalle - gespielt und gesungen wurde überall, beispielsweise trällerte Ueli Jäggi das Johannes-Heesters-Lied "Ich werde hundert Jahre alt". Auch diese Inszenierung erhielt eine Einladung zum Theatertreffen, wie so manch andere.

 

Im öffentlichen Raum

Marthaler liebt das Theater an Originalschauplätzen. Bereits 1988 fand "Ankunft Badischer Bahnhof" als Desorganisation im öffentlichen Raum statt. 1985 erfolgte in einer Zürcher Apotheke ein Satie-Projekt. Marthaler nannte den 24-Stunden-Klaviertag "eine künstlerische Intervention im städtischen Alltag". "Schutz vor der Zukunft" (2005) startete im Wiener Otto-Wagner-Spital, wo im 3.Reich ein umfassendes Euthanasie-Programm stattfand, bei dem angeblich Behinderte und in der Entwicklung zurückgebliebene Kinder systematisch liquidiert wurden. Eigentlich wurde kein Theater gespielt, die musikalische Untermalung bildeten unter anderem Kompositionen von Schubert, Mahler und Schostakowitsch. Insgesamt ist das Arbeitsbuch sehr selektiv, viele bedeutende Inszenierungen fehlen, etwa "Die Fruchtfliege" oder "Riesenbutzbach". Ein Heranziehen von Kritikern und Außenstehenden, kurz eine Außenperspektive hätte dem Buch sicherlich gutgetan.

Theater der Zeit: Christoph Marthaler. Haushalts Ritual der Selbstvergessenheit. (Herausgegeben von Malte Ubenauf und Stefanie Carp). Theater der Zeit: Berlin 2014, 222 Seiten, EUR 24,50.

 

 

 

 

 

 

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