Das kreative Potential der Schauspieler ausschöpfen

Thomas Ostermeier, Buch-Cover

© Theater der Zeit

 

Die deutschen Kritiker bewerten seine Inszenierungen allerdings arg zwiespältig, und Ostermeier hat beispielsweise die Rezensionen zum "Volksfeind" aus Selbsterhaltungsgründen nicht gelesen. Dennoch ist er inzwischen recht abgebrüht: Noch ist es nicht so weit, dass, ähnlich wie bei Thomas Mann, die Freunde die Negativkritiken vor Ostermeier verstecken müssen. Das Gespräch, ein 140-seitiges Interview mit Gerhard Jörder, gerät nicht selten zur Selbstrechtfertigung angesichts der Behauptungen der maßgeblichen Kritiker. Den Vorwurf, er betreibe trockene Milieustudien und huldige einem fragwürdigen TV-Realismus, wehrt der Regisseur ab, da er die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Vordergrund rückt, und die sind nun einmal realistisch. Der sich als Kämpfer und Aufbauer verstehende Institutionsleiter konstatiert im Gegenwartstheater eine schleichende Publikumsverachtung, die sich durch überästhetisierte Selbstbespiegelung und Dekonstruktionsdrang äußert. Niederreißen kann jeder, Ostermeier aber möchte etwas schaffen – und den Menschen mitsamt seinem kreativen Potential in den Mittelpunkt stellen. Zumal er ein notorischer, obsessiver Menschenbeobachter ist.

 

Vom Landshuter Mief zum Großregisseur

Angefangen hat alles ganz anders, in einem provinziellen Nest in der Lüneburger Heide. Nach dem elterlichen Umzug nach Landshut kristallisiert sich ein Hass auf Bayern heraus, er möchte der kasernenmäßigen Atmosphäre entfliehen, möchte Schauspieler werden, etwas Bedeutendes der Welt hinzufügen. Ein wertvoller Kontakt mit Elmar Schleef entsteht, schließlich wird er an der Berliner Hochschule Ernst Busch aufgenommen, im Fach Regie. Harte Arbeit an sich selbst führt nicht zu harten Arbeiten, aber zu Eindruck erweckenden, und ihm wird überraschend die Leitung der Baracke des deutschen Theaters offeriert. Mehr an Spielformen, am Erforschen interessiert als am Text, gibt er dem Anarchischen freien Raum, ein Bedürfnis, das zu genießen ihm offensichtlich eine sublimen Genuss der intensiven Art verschafft: Auch in den langen Schaubühnen-Jahren kommt er ihm immer wieder nach. Vor allem "Shoppen & Ficken" trifft den Nerv der Zeit, wird zur Erfolgsgeschichte und hinübergetragen in die anfangs arg gebeutelte Schaubühne. Seit 1999 dort Intendant, muss er in den ersten Jahren empfindliche Nackenschläge hinnehmen, die quasi in den Eingeweiden rumoren. Ohne die Auslandstriumphe, so gesteht er, hätte er wohl nicht durchgehalten.

 

Keine Angst vor dem Anecken

Ohne Zweifel, der Unverwüstliche, Entdeckungsfreudige setzt auf Kontinuität, das beweisen die Urgesteine Jule Böwe und KB Schulze, aber auch Lars Eidinger, Felix Römer und, als Dauerbesetzer von Nebenrollen, David Ruland. Schauspieler, die, einmal durch die "Schule" der Barackenzeit gegangen, sind heute noch gut im Geschäft, etwa Roland Kukulies, André Szymanski, Bruno Cathomas und Bernd Stempel. Etwas störend an dem Buch sind die permanenten Rechtfertigungen, als habe sich Ostermeier gegen die Anfechtungen vom Kritikerwald zur Wehr zu setzen. So entsteht eine Auseinandersetzung, die der fest im Chefsessel verankerte Orchesterleiter im Stillen mit seinem bestens informierten Interviewer führt. Immerhin, er, der die indifferente politische Einstellung der heutigen Jugend anprangert, ist offen und ehrlich und unverzichtet auf diplomatische Wendungen, die es allen recht machen, nur um nicht anzuecken. Kurz ausgedrückt: Ostermeier bezieht Position und grenzt sich damit von anderen Ästhetiken und Theatersprachen ab. Gefragt nach der Rolle der digitalen Entwicklung in Bezug auf das Theaters, winkt er ab: Leserkommentare liest er nicht, er würde sie am liebsten abschaffen. Beinahe stolz ist er auf die jugendliche Frische und Internationalität seines Publikums, das Vorgreisenalter ist deutlich in der Minderheit. Mit seiner Kritiker-Kritik steht der Intendant fast in der Tradition von Peter Stein und Peter Zadek, allerdings ohne deren Schärfe: Der Theatermacher am Lehniner Platz reagiert konstruktiv, und so sieht er auch seine Theaterarbeit. Jeder Genosse im Willy-Brandt-Haus würde angesichts eines solches Lebenslaufs mit der Zunge schnalzen. Letztlich ist es ein Buch von hohem Informationswert.

Theater der Zeit: Ostermeier backstage. Mit einem Vorwort von Gert Voss. Berlin 2014, 152 Seiten.

Verlag Theater der Zeit

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