Die Kulisse: Zukunftsängste

Die Kulisse: Zukunftsängste (Bild: © Dorothea Heise)

Abwanderungen führen zu umfassenden Schließungen

Das Dokumentationstheater beginnt durchaus heimatlich, und zwar in einem Nebenraum. Das Bergmannslied Glück auf wird intoniert, und die Zuschauer, an die zuvor Notenblätter verteilt wurden, sind dazu aufgerufen, mitzusingen. Vielleicht wird das Lied nur angestimmt in der Hoffnung, dass nicht nur der Steiger, sondern auch der Zuschauer "sein helles Licht bei der Nacht schon angezündt'" hat. Dann geht es in den Hauptraum, wo sich das Publikum an verschiedenen Orten hinsetzen kann. Es stehen da Repräsentantinnen von Seesen, Osterode, Jühnden und Clausthal-Zellerfeld. Um langfristige Bürger*innen ist es ihnen zu schaffen, nicht um kurzfristig Geld bringende Touristen, die als "Urbaniden" das Land nur als Dschungel betrachten. Am Beispiel Adelebsen, Landkreis Göttingen, wird auf einem Konstruktionstisch gezeigt, wie massive Abwanderungen zu Schließungen führen. Das Ziel "Gemeinwohl prägende Lebensqualitäten" rückt in weite Ferne. In Seesen sieht es noch gravierender aus: Grundschulen schließen, Discos verschwinden, klapprige Ärzte landen auf dem bequemen Rentnerstuhl, stattdessen öffnet ein Spielcasino, wohl um ein paar solvente, den Nervenkitzel brauchende Abenteurer anzulocken. Das Beharrungsvermögen der Unausgebildeten scheint in dieser Region besonders heftig zu sein, da bleibt nichts anderes übrig, als Anreize für junge tatkräftige Menschen zu schaffen.

Im Vordergrund: Agnes Giese

Im Vordergrund: Agnes Giese (Bild: © Dorothea Heise)

Im Harz will man zusammenhalten

Der Regisseur hat das Dargebotene nicht etwa erfunden, er hat Recherchen durchgeführt und Wissenschaftler, Kulturschaffende, Kreispolitiker und die Landbevölkerung nach ihrer Sicht der Dinge befragt. Ihre Stimmen werden auf der Bühne präsentiert, allen voran die Profis Götz Laudenbach, der mehr auf die große Geste und aufs Theatralische setzt, und Agnes Giese, die mehr Wirklichkeitsnähe und Heimatverbundenheit verkörpert. Hinzu kommen Eva Maria Hamm und Benjamin Wilke von der Schauspielschule Kassel und raumfüllende Komparsen, die dem Ganzen mehr Leben und inszenatorische Dichte einhauchen sollen. Was kann man gegen den Braindrain und den Verlust rustikaler Energien unternehmen? Den Gemeinschaftssinn fördernde Projekte werden ins Leben gerufen, etwa "Solidarity: harzer helfen" oder "home is were the harz is", angelehnt an Lene Lovich' home is where the heart is. Die Ausdrücke sind missverständlich, sind doch bei Harzern umgangssprachlich oft Harzvierer gemeint. Böse ist, wer nun dahingehend interpretiert, dass wieder einmal die sozial Schwachen die Hauptlast stemmen müssen. Immerhin richtet sich der Blick gen Zukunft, und sogar der knapp 15 000 Einwohner beherbergende Luftkurort Clausthal-Zellerfeld wähnt sich mittlerweile, fernab von der Disqualifizierung als Provinznest, eminent international. Auf die Flüchtlingswelle hat man sich allenthalben eingestellt, die Migranten werden – zumindest von Harzer Fraktionen – als Bereicherung empfunden. Während man sich in Osterode um das Wohlgefühl der Migranten kümmert, sind in Seesen primär reiche Araber willkommen. Ob deren Lebensformen mit den Gewohnheiten der alteingesessenen Bauern und Arbeiter kollidieren könnten, wird dabei nicht reflektiert. Fraglich ist auch, ob die Reize des Oberharzer Bergwerksmuseum für eine Daueransiedlung reichen. Insgesamt wird in dieser nicht uninteressanten Inszenierung zu sehr auf statistisch abgesicherte Zukunftsprognosen und damit einhergehende Ängste gesetzt. Zu viel Fakten und zu wenig Theater. Aus dem Text entsteht kein richtiges Spiel und so ist diese Odyssee nur ein noch akzeptables Informationstheater.

2030 – Odyssee im Leerraum

Theaterstück über den Strukturwandel auf dem Land

Junges Theater Göppingen

Regie: Nico Dietrich, Dramaturgie: Lutz Keßler, Foto: Dorothea Heise.

Es spielen: Agnes Giese, Götz Lautenbach, Eva Maria Hamm, Benjamin Wilke, Jannika Pyttlich, Emma Schisler, Charlotte Well und Leon Caspari.

Theaterdiscounter Berlin

Berlin-Premiere vom 27. April 2016

Dauer: ca. 90 Minuten

 

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