Theaterdiscounter Berlin: Kritik von "Die Welt im Rücken" – Thomas Melle
Premiere. Aufgeführt wird ein autobiografischer Text des Schriftstellers Melle, der an einer manisch-depressiven Störung leidet.Thomas Melle (Bild: © Udoweier / Wikipedia)
Feiern ohne Ende
Anfangs sitzen die drei Schauspieler*innen, einen Sicherheitsabstand wahrend, an einem langen Tisch. Diese Sitzung wirkt wie eine Konferenz und gemahnt an einer szenische Lesung. Später wird der Tisch weggeräumt und die Akteur*innen beginnen etwas zu schauspielern, vor allem Scharegg, der, scheinbar von einem inneren Motor angetrieben, hektisch herumläuft, um Nervosität und Herzrasen zu illustrieren. Natürlich hat, so Schwalm, jeder Bipolare eine Vorgeschichte, bei Melle waren es Alkohol und Drogen. Trotz eines Gefühls von Leere und Apathie während der depressiven Phase studiert Melle "mit Vollgas". Unbehaun schlüpft ganz in die Rolle eines Arztes, der über die neuesten Erkenntnisse der medizinischen Forschung Bericht erstattet. Sie begibt sich in das Terrain der Nervenphysiologie und erörtert den Ausfall eines Gehirnareals infolge einer gestörten Übertragung der Transmittersubstanz – Phänomene, die einige Leute noch bruchstückhaft vom schulischen Bio-Unterricht wissen, sofern sie nicht total abschalteten und von extravaganter Erotik träumten. Nach der Stimmung melancholischer Unhehaustheit erfolgt ein Stadium exaltierten Überschwangs. Im verzweifelten Versuch zu decodieren hastet Melle von Café zu Cafè und phantasiert sich in glühenden Sex mit Madonna hinein, als sei die gealterte Pop-Lady der Gipfel sinnlicher Glückseligkeit. Ja, feiern will er, grenzenlos feiern, die Ufer übertreten mit Hilfe von Musik, deren Rausch ihn zu eingeladenen und uneingeladenen Partys treibt, zum Beispiel in die Kastanienalle im Prenzlauer Berg.
Der Absturz ist vorprogrammiert
Nach einer Weile legt Unbehaun den Part der medizinischen Auskunftsgeberin ab und wird zu Melle, sie ist Melle, und das mit gesteigerter Empathie. Wie viele Schriftsteller hat auch er Probleme mit den Verlagen und gilt als abgelehnter Autor, so Schwalm und Unbehaun im Chor. Angesichts der Versagensängste und inneren Desperation landet Melle in einer Klinik, bei einem "Sammelsurium von Fehlgeleiteten", eingepfercht mit desaströsen Patienten, obwohl er sich insgeheim wie der König von Deutschland fühlt. Hach, was für eine Tragödie für die Familie! Und dabei wollte der Schriftsteller ursprünglich Regisseur werden, also wurde er Theatermensch mit Herzblut, um schließlich festzustellen, dass er sich in einer Vollsuff-Station befindet, wo "Nirwana-Trinken" angesagt ist. Unvermittelt leidet der viertelreüssierte Theatermensch an Verfolgungswahn. Bei Scharegg überschlagen sich die Worte, versprengte Splitter fließen ineinander, überlappen sich zur Kakophonie – eine Nonsense-Kaskade. In Augenblicken entesselter Obsession und Rücksichtslosigkeit möchte er geistiges Neuland erkunden mit einer Berauschheit und Verzückung, die schon den nächsten Absturz ankündigt. Ich will nicht mehr in die Klinik, brüllt Theaterboss Scharegg, anschließend umwickeln ihn die Kollegen mit Folie, die leider nicht an die Selbstumwicklung von Martin Kippenberger heranreicht. Endlich etwas Theater in diesem wortgewaltigen Szenarium! Eigentlich müsste das Erklimmen der eingangs erwähnten Shortlist mit "3000 Euro" für Euphorie sorgen, aber der eigenwillige Schriftsteller empfindet das als ein Desaster für Schaulustige. Die Romane: Er kann nur in ruhigen, erkrankungsfreien Phasen schreiben. Und dann, wenn alles schön ist und sich in wohltuende Harmonie auflöst – dann werden seine Zeilen ein Gebet sein. Egal, wie diese Lebensgeschichte des Getriebenen letztlich ausfällt: Dieser gnadenlose Selbstbericht eines feinnervien Einsamen, diese Erschütterungen und Manifestationen eines schwierigen Lebens nötigen einigen Respekt ab. Man kann dieses Thema auch in den Sand setzen – im Theaterdiscounter geschieht das Gegenteil.
Die Welt im Rücken
von Thomas Melle
Mit: Verena Unbehaun, Cornelius Schwalm, Georg Scharegg.
Produktion: Theaterdiscounter
Premiere vom 15. Juni 2017
Dauer: ca. 90 Minuten
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)