Theatertreffen Berlin 2016: Kritik von "Ein Volksfeind" – Stefan Pucher
Der Regisseur Pucher versucht es mit dem Sciene-Fiction-Autor Dietmar Dath. Heraus kommt eine hochkapitalisierte, digitale Welt. Und ein "Arschlochergebnis" der Mehrheit.Projektion: Isabelle Menke; Vordergrund: Backy Lee Walters, Sofia Elena Borsani (Bild: © Tanja Dorendorf / T+T Fotografie)
Fracking ist an allem schuld
Die Berliner Theatergänger kennen sich aus beim Volksfeind, der hauptsächlich von plakativer, polarisierender Gegenüberstellung lebt. In der zweiten Hälfte von 2012 gab es eine förmliche Lawine: Ostermeier in der Schaubühne, Jorinde Dröse im Gorki Theater und der heutige Kasseler Oberspielleiter Markus Dietz in Potsdam. Mehr als frisch aufgetragene Farben kann Pucher nicht bieten, auch nicht mit dem sich inspiriert gerierenden Gedankenverwalter Dietmar Dath. Was wie eine innovative Belebung daherkommt, ist eine neonlichtverwandte Buntbeleuchtung und ein ins Digitale hochgeschraubter Turbo-Kapitalismus, der rein utilitaristisch ans "größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl" appelliert. Auch wenn das Wasser, wie modern, durch Fracking kontaminiert ist. Der Bürgermeisterbruder Peter (Robert Hunger-Bühler) plädiert für Kapitalakkumulation ohne Rücksicht auf Verluste, Thomas (Markus Scheumann) setzt sich für die Ökologie ein, selbst wenn die Bevölkerung vom Pleitegeier umzingelt ist. Ein Teil des Bühnenaufbaus könnte einige Anhänger einer ausgetüftelten Modell-Eisenbahn entzücken. Ein Miniaturarrangement zeigt ein idyllisches Klein-Helvetia mit progressivem Provinzappeal, in dem alle kapitalistischen Räder ineinander greifen.
Gedankenaustausch beim Radfahren: Markus Scheumann, Robert Hunger-Bühler
© Tanja Dorendorf / T+T Fotografie
Alles ist Netz
Textbearbeiter Dath ist tief in die Internet-Welt reingekrochen, alles ist Netz. Ein Zeitalter wird besichtigt. Facebook-Likes sind oberstes Gebot. Aus dem wetterwendischen Zeitungsagenten Hovstad (Tabea Bettin) wird eine Bloggerin des Demokratie-Portals "DEMOnline". Und der Verleger Aslaksen (der DT-erprobte Matthias Neukirch) mutiert zu einem klebrigen Softwareunternehmer. Der Blick richtet sich immer auf die Mehrheit. So weit, so opportunistisch. Im Übrigen ist Pucher einiger Zeitreisen nicht unabgeneigt. Tabea Bettin und Thomas' Gattin Katrine (Isabelle Menke) tragen Pilzkopffrisuren wie in den 60er-Jahren, sie frönen einem Topfschnitt, dessen vermeintlichen Reizen selbst der junge Peter Handke erlag. Da Pucher ein entindividualisiertes Typentheater favorisiert, agiert die eigentlich über ein subtiles Reservoir verfügende Tabea Bettin als Puppe. Ähnlich gestalten sich die musikalischen Abschnitte. Die von Synthie-Pop geprägte Neue Deutsche Welle hält sieghaft Einzug. Dazu bewegen sich die Musiker*innen roboterhaft und extrem ungelenkig. Pucher, ein Eklektizist großen Stils, grapscht sich aus vergangenen Moden so einiges zusammen, rührt eine hypermoderne Digitalsauce dazu und präsentiert das Ganze als schwungvolle Erneuerung.
Die korruptionsanfällige Medienwelt wird mit einem Handstreich erledigt
Seht, da ist Robert Hunger-Bühler, Mephisto von Peter Steins Gnaden. Ganz in Grünmint, mit einem Stich ins Türkisfarbene. Als Peter Stockmann ist er ein Vertreter des klassischen Kapitalisten, der aus Prosperitätsgründen die Errungenschaften angeblich fortschrittlicher Technik feiert, aber sich, was die sogenannten Werte anbelangt, in den frühen 60er-Jahren aufhält. Leicht rau und kehlig ist die Stimme, aber präzise und gebieterisch. Die Sprache des gesamten Ensembles ist eine teils künstlich-artifizielle, teils abgehoben-distanzierte Fernsehsprache. Dass man einen Anzug auch ohne Sakko und nur in Weste tragen kann, beweisen die beiden Protagonisten. Auf die Schnelle lässt sich nicht sagen, ob das die neue Zürcher Mode ist. Das Hemd, das Markus Scheumann bei seiner Brandrede anhat, ist ein optisches Desaster. Beim Empörungsmonolog hat er das himmelblaue Bürgerhemd mit einem knallbunten Oberteil vertauscht, weil nun einmal ein Öko-Rebell etwas Unkonventionelles trägt, um seiner die unauslöschliche Wahrheit aussprechenden Stimme mehr Gewicht zu verleihen. Was hat Pucher geschafft? Einen mit Mühe erträglichen Abend. Nimmt man das Überklebte weg, bleibt nicht mehr viel übrig. Immerhin: Die korruptionsanfälligen, nach der Mehrheit schielenden Medien werden mit einem Handstreich erledigt. Plump zwar, aber das muss man erst einmal leisten. Die Frage ist nur: Warum haben sie 2013 nicht den Ostermeier genommen?
Ein Volksfeind
von Henrik Ibsen
in einer Bearbeitung von Dietmar Dath
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Video: Ute Schall, Kostüme: Annabelle Witt, Musikalische Leitung: Christopher Uhe, Dramaturgie: Andreas Karlaganis Live-Musik: Becky Lee Walters.
Mit: Tabea Bettin, Matthias Neukirch, Isabelle Menke, Sofia Elena Borsani, Siggi Schwientek, Nicolas Rosat, Markus Scheumann, Sinan und Timur Blum, Robert Hunger-Bühler.
Schauspielhaus Zürich
Theatertreffen Berlin 2016
Kritik vom 11. Mai 2016
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
Bildquelle:
Ruth Weitz
(Lilli Chapeau und ihr kleinstes Theater der Welt in Miltenberg)